Michel de Montaigne, der alte französische Charmeur und Philosoph, hat sich schon vor Jahrhunderten Gedanken über das gemacht, was wir heute als Sicherheitsdilemma kennen. Sein Urteil: Je mehr man sich schützt, desto mehr lädt man zum Angriff ein. Und während wir über Montaignes Rüschenkragen und seinen gepflegten Schnurrbart schmunzeln, entgeht uns vielleicht die messerscharfe Ironie seiner Beobachtung. Die Frage ist nämlich: Wer zerstört hier eigentlich wen? Der Angreifer das Haus – oder die Angst vor dem Angreifer den Hausbesitzer?
Die große Illusion der Sicherheit
Man stelle sich vor: Da steht es, das stolze Haus, umgeben von Mauern, Überwachungskameras, Alarmanlagen und einem Wachhund, der so bösartig ist, dass er selbst seine eigene Familie anfletscht. Alles im Namen der Sicherheit, versteht sich. Und dann? Dann kommt der große Moment: Ein Angreifer fühlt sich plötzlich berufen, dieses Fort Knox zu knacken – nicht etwa, weil er es wirklich braucht, sondern weil die pure Existenz dieses Bollwerks ihn provoziert. Montaignes Pointe: Der Schutz selbst ist die Einladung. Willkommen im 21. Jahrhundert, wo Montaignes Philosophie bei jedem Amazon-Ring-Doorbell-Werbespot ein bisschen mehr Realität wird.
Schutz oder Selbstsabotage?
Es ist nicht schwer, den modernen Geist Montaignes in der Gegenwart zu finden. Nehmen wir nur mal die zahllosen kleinen Sicherheitstheater, die unser Leben durchziehen: Flughafenkontrollen, die dich wie einen Kriminellen behandeln, während sie deine Zahnpasta konfiszieren, oder Wohnkomplexe, deren Zäune so hoch sind, dass man einen Bergsteigerkurs braucht, um das eigene Grundstück zu verlassen.
Die Botschaft, die solche Maßnahmen senden? „Hier gibt es etwas zu holen!“ Die Ironie: Diejenigen, die sich am besten schützen, geben der Welt genau die Art von Rätsel auf, die ein Angreifer nur zu gern löst. Es ist, als ob man einen Ferrari mit einem riesigen Schild „NICHT STEHLEN!“ parkt – direkt vor einer Schule für Autodiebe.
Die Psychologie des Guten
Doch Montaigne belässt es nicht bei der bloßen Kritik an den Mauern, die wir um uns bauen. Er wirft eine noch unangenehmere Frage auf: Warum glauben wir eigentlich, dass uns jemand angreifen will? Vielleicht, weil wir selbst zu sehr daran gewöhnt sind, alles durch die Brille des Eigennutzes zu betrachten? Sein Gedanke: Ein guter Mensch ist nicht jemand, der sich selbst schützen muss, sondern jemand, der so uneigennützig ist, dass es sich für niemanden lohnt, ihn anzugreifen. Der wahre Schutz liegt also nicht in der Mauer, sondern in der Art, wie wir mit anderen umgehen.
Das ist natürlich keine besonders populäre These in einer Welt, die sich von Sicherheitsfirmen und Hightech-Alarmanlagen ernähren lässt. Wer sagt schon freiwillig: „Lass die Tür offen, und hoffe auf das Beste!“? Wahrscheinlich niemand, der morgens in den Nachrichten gelesen hat, dass irgendwo wieder ein „besonders gesicherter“ Safe geknackt wurde.
Die Lektion vom zusammenfallenden Haus
Montaignes Beispiel von den bewaffneten Häusern, die schneller zusammenfallen, klingt für uns heute wie ein antiker Witz – bis wir genauer hinsehen. Ob es die digital gesicherte Cloud ist, die plötzlich gehackt wird, oder das Land mit den meisten Waffen, das sich selbst im Inneren zerlegt – der Mechanismus bleibt derselbe: Die Angst vor einem Angriff ist oft der Anfang vom Ende.
Man könnte fast meinen, dass die wahre Kunst des Lebens darin besteht, sich selbst überflüssig zu machen. Warum? Weil jemand, der nichts zu verteidigen hat, auch nichts verlieren kann. Klingt radikal, oder? Doch vielleicht hat Montaigne genau das gemeint: Ein Leben ohne permanente Angst ist ein Leben, das nicht erstickt unter der Last der eigenen Mauern.
Und jetzt?
Während wir weiter unsere Schlösser verstärken und unsere Alarme lauter stellen, könnten wir uns fragen, ob nicht genau das der Grund ist, warum wir uns unsicher fühlen. Vielleicht liegt die Antwort ja nicht in der Verteidigung, sondern in der Offenheit. Aber wer hat schon den Mut, die Tür einen Spaltbreit offen zu lassen? Schließlich könnte ja jemand kommen. Oder auch nicht.