Bildquelle: francediplomatie | Photo : F. de la Mure / MAEE | CC BY-NC-SA 4.0Recep Tayyip Erdoğan et Julia Gillard

Distanzierung von einem Tabuthema in der Türkei

Seiner Natur entsprechend hat jeder Mensch seine guten und seine weniger guten Seiten. Unsere Bemerkungen anderen Menschen gegenüber entwickeln sich deshalb auf der Basis einer Beurteilung hinsichtlich einiger bestimmter Kriterien. Wie der Lehrer die schulischen Leistungen seiner Schüler in Bezug auf die Punkteverteilung beurteilt, bewerten auch wir beispielsweise Politiker hinsichtlich ihrer moralischen und ethischen Positionen oder ihrer Gesetzgebung, ob und inwiefern sie gegen Gesetze und Moral handeln oder einen Fußballer danach, ob er trifft oder mit oder gegen die Spielregeln agiert. Also jede Beurteilung stützt sich auf Kriterien, die in den jeweiligen Sachgebieten gängig und relevant sind. Dabei ist die Beurteilung der positiv gemeinte und produktiv abgestimmte Sinn von Kritik.

Das Wort Kritik ist im 17. Jahrhundert in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt worden, wobei der deutsche Philosoph Immanuel Kant zu seinen Lebzeiten sogar die „reine Vernunft” kritisierte. Der lateinische Ursprung dieses Wortes „criticare“ bedeutet “unterscheiden oder trennen”. Neben der positiven Deutung als „Beurteilung” gibt es auch die kontraproduktive Definition dieses Wortes und das ist der „Tadel”.

Auf Grund meiner geringen Wertschätzung gegenüber dem Wort „Tadel” lasse ich diesen Begriff in diesem Artikel außen vor und begnüge mich mit dem positiv zu verstehenden Wort „Beurteilung”. Denn eine Beurteilung, die uns in unseren Entwicklungen nicht weiterbringen, dient nur dem Zweck, uns gegenseitig zu demütigen. Weil viele Menschen zum einen als Kritisierende nicht unbedingt kompetent in dem Thema sind, zu dem sie jemand kritisieren und zum anderen nicht immun sind gegenüber ihnen selbst geäußerter Kritik, entstehen Konflikte, die ich hier bewusst vermeiden möchte.

Aber eins muss klargestellt werden: Wenn Entwicklungen zu beobachten sind, die den Normen, den Gesetzen und sogar den Gebräuchen eines Landes zuwiderlaufen, dann sollte man sich auch dagegen äußern und sich gegen diese Entwicklungen stellen können.  Der Zustand einer Gesellschaft lässt sich auch daran ermessen, wie viel Mutes es bedarf, um angesichts gesetzeswidriger Zustände die persönliche Angstschwelle zu überwinden und gegen einen Gesetzesverstoß Flagge zu zeigen. Vor allem wenn man selbst gegen Normen gehandelt hat, sollte man bereit sein, sich einer Selbstkritik zu unterwerfen, bevor andere es auf unbarmherzige Art tun und einem die Leviten lesen. Denn Selbstkritik ist eine erlernbare Tugend.

Vom Volkshelden zum Tabuthema in der Türkei

In Gesellschaften, deren Angehörige entweder aus Emotionalität heraus oder aus Furcht eine Autoritätsperson hochschätzen, kann man daran verzweifeln, Grundlagen für eine Beurteilung oder eine Bewertung zu erläutern. Für die einen ist der jeweilige Mensch oder auch eine Organisation wie ein Gott auf Erden, der immer die Wahrheit sagt und richtig handelt. Denken Sie an das Beispiel Atatürk: Anfang der 1920er Jahre führte der Staatsgründer der Türkei das türkische und mit ihm auch das kurdische und einige andere Völker aus einem hart umkämpften Unabhängigkeitskrieg in die Souveränität. Doch nach der Ausrufung der Republik wurden Artikel in der neuen türkischen Verfassung verankert, die Atatürk zu einem Tabuthema machten. Man durfte das Staatsoberhaupt nicht kritisieren, ja man konnte nicht einmal dazu ansetzen. Wehe, es beging jemand diesen Fehler – er landete sehr schnell dafür im Knast.

Mit dem Anbruch des 21. Jahrhunderts brach für die Türken auch eine neue Phase an: Die Wirtschaftszahlen waren besser als jemals zuvor in 80 Jahren des Bestehens der Türkei und die Entwicklungen in den sozialen Strukturen des Landes sicherten dem damaligen Premierminister und nunmehrigen Staatspräsidenten Erdoğan acht gewonnene Wahlen hintereinander. Der zweite „Vater der Türken” kam in seinem Volk sehr gut an und steigerte seine Macht von Tag zu Tag. Aber zu viel Macht kann einem auch schaden, wovon die Geschichtsbücher immer wieder berichten. Verglichen mit dem erwähnten Beispiel Atatürks führte diese Hochachtung mit der Zeit auch zu einem Tabu bezüglich der Person Erdoğans. Fehlende Kontrollmechanismen und fehlende Beurteilungen können aber einen Demokraten wie Erdoğan zu einer Autoritätsperson machen, die dann nicht mehr zu bändigen sein könnte. Die Gefahr lauert immer in solchen Gesellschaften: Dank der Beliebtheit, die Erdoğan anfangs durch seine Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten, in den letzten zwei Jahren jedoch vor allem durch eigenartige politische Taktiken eingeheimst hat, steht er jetzt in der obersten Etage des türkischen Staates.

Menschen, die jahrzehntelang mit militärischen Aufmärschen und Putschen konfrontiert waren, spürten mit ihm die Macht der Demokratie und die Stärke des eigenen Volkes. Auch der Autor dieses Beitrags applaudierte zehn Jahre lang diesem starken Mann und schloss ihn in sein Herz.

Doch auch Erdoğan ist ein Mensch und kann Fehler begehen, obwohl er von zahlreichen Beratern ständig auf dem neuesten Stand der Dinge gehalten wurde. Der Kurs, den er seit zwei Jahren einschlägt, zeigt deutlich, dass seine Berater ihn in eine falsche Richtung gelenkt haben, abgesehen davon, dass er diesen Kurs auch selbst eingeschlagen hat.

Der „Parallelstaat“ ist eine Erfindung Öcalans

Denn Innen- wie Außenpolitik haben längst ihren Frühling hinter sich gebracht und auch die soziale und wirtschaftliche Blütephase ist vorüber, obwohl die fanatischen Anhänger Erdoğans es nicht so sehen wollen. Die Scheuklappen verbergen leider den Blick auf die Realität, der viele Menschen nicht mehr in die Augen schauen können. Zu den großen Prestigeprojekten wie der dritten Hängebrücke über den Bosporus oder dem dritte Flughafen treten auch Schattenseiten zutage. Die Hexenjagd auf die eigenen Sicherheitskräfte, die im Zuge der Korruptionsvorwürfe, die bis ins Umfeld Erdoğans reichten, ermittelten und Daten aufspürten, ist auch kein gutes Zeichen für eine starke Türkei im 21. Jahrhundert. Ganz zu schweigen von teilweise gotteslästerlichen Äußerungen seiner anscheinend scheinheiligen Parteifreunde, zu denen der gutgläubige, fromme Erdoğan bis heute keine Stellung bezogen hat, rechtfertigen diese Tatsachen die Beurteilung, die ich hier von mir gebe.

Ich wünschte mir, dass die fanatischen Anhänger Erdoğans diese Entwicklungen be- und die Verantwortlichen für diese missliche Lage verurteilen könnten.

Ich wünschte mir, dass sich die Demokraten in dieser Partei erheben würden, nachdem Erdoğan sich gegen die Gülen-Bewegung ähnlich wie Öcalan äußerte. Denn wie man durch ein wenig Recherche herausfinden kann, geht das Wort „Parallelstruktur” gegenüber der Gülen-Bewegung, wie es Erdoğan seit einigen Monaten verwendet, auf den inhaftierten Führer der terroristischen PKK zurück.

Auch wünschte ich mir von den Demokraten und Beschützern des Vaterlandes, dass sie Erdoğan be- bzw. verurteilen könnten in Anbetracht der Tatsache, dass er im Zuge seines Rachefeldzuges gegen die Gülen-Anhänger nicht einmal davor zurückschreckt, mit den vor fünf Jahren festgenommenen Staatsfeinden der Ergenekon-Bande den Schulterschluss zu üben und widerrechtlich gegen die Bewegung vorzugehen.

Ich wünschte mir, dass auch die Islamisten oder auch die frommen Muslime in dieser Partei sich erheben würden, nachdem viele Abgeordnete in ihren eigenen Reihen das Heilige Buch der Muslime und den Propheten Mohammed verspotteten und beleidigten, dagegen jedoch Erdoğan wie einen neuen Propheten heiligten.

Ich will den Erdoğan zurück, den ich bewundert habe

Auch wünschte ich mir von den Patrioten in dieser Partei, ihre Stimme zu erheben, nachdem im Osten mehrere Verbindungsstrecken durch PKK-Milizen verbarrikadiert, die türkische Flagge und somit die türkische Souveränität angegriffen, sowie ein Denkmal für den Terroristen, der den ersten Schuss auf einen türkischen Soldaten abgegeben hatte, errichtet wurde. Vergeblich suche ich nach diesen Patrioten, die auf der einen Seite seit einem Jahr ohne ein einziges Indiz gegen eine zivilgesellschaftliche Gruppe in ihrem eigenen Land vorgehen und ihr vorwerfen, sie hätte illegale Telefonmitschnitte veröffentlicht und somit einen Abhörskandal verursacht. Auf der anderen Seite spielen diese Patrioten, allen voran Erdoğan, den Taubstummen angesichts seit mehr als 38 Jahren anhaltenden Abhörmaßnahmen seitens des BND.

Ich wünschte mir, dass die AKP-Mitglieder wenigstens diese Entwicklungen sachgemäß be- bzw. verurteilen könnten. Ich wünschte mir, dass der Eiter aus der Wunde dieser Partei gezogen würde, die nur einer Dosis Kritik, ja sogar Selbstkritik bedürfte. Vergeblich.

Nach diesen Zeilen werden viele wieder denken, ich sei ein Gülen-Anhänger. Diese Leichtfertigkeit zeigt auch die Intelligenz jener, die bei jeder Beurteilung Erdoğans den Beurteiler als Gülen-Anhänger, den neuen „Feind“ Erdoğans, brandmarken, obwohl viele Aleviten, Rechtspopulisten und Laizisten in diesem Land Erdoğan nur kritisierten und nie seine guten Seiten sahen und sehen. Wobei ich nur den Mann wieder haben möchte, dem ich zehn Jahre lang meinen Beifall gespendet habe.

Wie dem auch sei, wünsche ich mir eine selbstkritikfähige Gesellschaft, die sich nicht alles gefallen lässt und nicht Opfer des Populismus wird. Nur eine Dosis Kritik würde reichen, um die gegenwärtige Krankheit zu heilen. Doch ohne zu lernen, dass es sich hier nicht um einen basislosen Tadel, sondern um eine reine Beurteilung geht, werden wir uns noch lange schwer tun.

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Geboren am 18.07.1973 in Kassel ist Sait Gül dort zur Schule gegangen. Sein Studium absolvierte er im Bereich Bauingenieurwesen. In seiner Jugend entwickelte sich Gül im Gebiet der Religionswissenschaften und Geschichte. Er war jahrelang freier Journalist in Tageszeitungen und brachte selbst eine regionale Zeitschrift in Kassel heraus. Gül ist verheiratet und hat vier Kinder. Er ist ein leidenschaftlicher Leser von historischen Romanen.

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