Willkommen in der wunderbaren Welt der Bildung 4.0 – einer Welt, in der Wissen gefälligst „on demand“ verfügbar sein muss. Hausaufgaben? Lesen? Nachdenken? Ach, wie süß. Das ist was für Boomerkinder, die noch Märchenbücher hatten. Heute wird Bildung konsumiert – wie die neueste Netflix-Serie – und wehe, die neue Staffel enttäuscht. „Das Skript war unklar, Frau Lehrerin, ich konnte der Handlung nicht folgen!“
Wie, ich soll was lesen? Kann ich das als Podcast hören?
Eine Lehrerin berichtet von ihrem Alltag: Texte, die niemand liest. Hausaufgaben, die nicht gemacht werden. Klausuren, die von den Schülern als unfair empfunden werden, weil – jetzt festhalten – niemand ihnen genau gesagt hat, wie man eine Analyse schreibt. Huch! Sechste Klausur in Folge, aber Analyse? Nie gehört. Entschuldigung, Frau Lehrerin, das hätte in den Patch Notes der Unterrichtsreihe stehen müssen!
Stattdessen sitzen 19 Schüler mit aufgeklappten Laptops da und „googeln kurz vor der Klausur“ – man will ja vorbereitet sein. Digital Natives eben, schnell mal Wikipedia durchscannen, zwei Absätze herauskopieren, und fertig ist die „Blitzanalyse“. Wenn das nicht reicht, ruft man ChatGPT zur Hilfe, der bekanntlich jeden Text in fluffige Luftballons mit Konfetti verwandelt. „Aber ChatGPT hat das so gesagt!“, lautet dann der unverschämte Einwand, wenn die 4- zurückkommt.
Das Bildungssystem ist kaputt – ich fordere Regress!
Ja, das System ist schuld. Immer. Der Lehrer, die Schule, der Stress, die Gesellschaft, der Kapitalismus, das Wetter, die Gravitationswellen. Was man heutzutage nicht alles als Grund anführen kann, um sich zu entschuldigen. Schüler beherrschen diese Kunst meisterlich. Die neuesten Argumente sind geradezu oscarreif:
- „Das war nicht fair, weil ich am Tag davor eine andere Klausur hatte.“
- „Ich dachte, die Hausaufgabe war freiwillig.“
- „Mein Drucker ging nicht, und ich kann keine PDFs öffnen.“
- „Warum brauchen wir das überhaupt, das macht ChatGPT doch besser.“
Eltern? Keine Hilfe. Sie kommen, um ihre Schützlinge mit der Empörung eines Konsumenten zu verteidigen, der gerade eine kalte Pizza geliefert bekommen hat. „Ich verlange eine Gutschrift für die schlechte Note meines Kindes!“ Die neuen Konsumenteneltern wollen keine mündigen Bürger erziehen, sondern Ticket-Systeme für ihre Probleme einrichten.
Digital Natives – nur ohne Dateien
„Öffnen Sie die Datei, die ich letzte Woche hochgeladen habe.“ – Stille. – „Welche Datei?“ – Stille. – „Ich finde die Datei nicht.“ – „Mein WLAN ist ausgefallen.“ – Digitale Apokalypse in vier Akten.
Wir reden hier von Schülern, die TikTok-Videos schneller schneiden als Scorsese und innerhalb von Sekunden tief in den Reddit-Kaninhöhlen abtauchen. Doch eine simple PDF öffnen? Das ist der Endgegner. Laptops auf, Dateien geschlossen, scrollen, scrollen, “Frau Lehrerin, ich sehe das nicht” – wohlgemerkt bei exakt vorgegebenen Dateinamenwie „Aufgabe_Deutsch_Analyse.pdf“.
Irgendwo in diesem Chaos liegt die Tragödie des digitalen Lernens. Wir dachten, diese Generation sei mit Technik aufgewachsen und wisse, wie man digitale Tools nutzt. Spoiler: Sie wissen es nicht. Sie können TikToks, ja. Aber sie können keine Texte aus einer Cloud aufrufen. Dateiverwaltung ist Hexerei.
Lehrkräfte als Netflix-Drehbuchautoren
Das alles führt zu einem grundlegenden Wandel der Lehrerrolle: Früher war der Lehrer Wissensvermittler, heute ist er Content Creator. Seine Unterrichtsreihen müssen durchdacht und „user-friendly“ sein. Die Schüler sind die User, die Lehrkraft der Anbieter. Die Inhalte müssen leicht verdaulich, gut formatiert und barrierefrei abrufbar sein. Das sind die neuen User-Experience-Standards des Klassenzimmers.
In den Pausen wird dann Feedback eingesammelt: „Frau Lehrerin, die letzte Stunde war echt langweilig.“ – „Sie hätten das Thema ‚Drama‘ spannender gestalten können.“ – „3/5 Sterne, zu wenig Plot-Twist.“ Das Lehrkräfte-Rating ist knallhart. Nur wer abliefert wie bei einer Marvel-Premiere, hat Chancen, den Unterricht „viral“ zu machen. Die Schüler sind die Kritiker, und die Noten werden am Ende auf Rotten Tomatoes zusammengezählt.
Bildung to go, bitte. Aber ohne Aufwand.
Aber seien wir ehrlich: Wissen muss heute Convenience-Charakter haben. Es muss leicht, schnell und ohne Aufwand konsumierbar sein. Das Problem ist, dass Wissen nicht wie Chicken Nuggets aus der Fritteuse ploppt. Wissen muss erarbeitet, durchdrungen und verstanden werden – und das dauert.
Aber wir haben keine Zeit. Das heutige Bildungssystem gleicht einer Fast-Food-Kette mit Drive-In. Die Schüler wollen es to go, aber es soll bitte schmecken wie Sterneküche. Während die Lehrkräfte Nachhilfe, Extraschichten und „Blitzklausuren ohne Korrekturabzug“ anbieten, sitzen die Schüler im Auto, hupen, und rufen: „Warum dauert das so lange?!“
Und was machen wir jetzt?!
Gute Frage. Was macht man mit einer Generation, die alles will, aber nichts tut? Einer Generation, die alles konsumiert, aber nichts verinnerlicht? Einer Generation, die meint, dass Lehrkräfte für ihren Erfolg verantwortlich sind und nicht sie selbst?
Gar nichts.
Ja, genau. Gar nichts. Denn je mehr man versucht, ihnen alles abzunehmen, desto mehr schleicht sich die Überzeugung ein, dass die Verantwortung bei der Lehrkraft liegt. „Ich habe nichts verstanden, Frau Lehrerin, erklären Sie das nochmal!“ Der Schüler als König, der Lehrer als Hofnarr.
Das ist der große Fehler. Es muss weh tun. Ja, Hausaufgaben nicht gemacht? Selber Schuld. Text nicht gelesen? Pech gehabt. „Ich wusste nicht, dass das dran kommt“? Wusste ich auch nicht, dass Sie pünktlich kommen. Die Korrektur dieser Konsumhaltung ist härter als jede Klassenarbeit, aber sie muss geschehen.
Schule – jetzt mit Staffel 2
Wenn wir das Bildungssystem wirklich ändern wollen, brauchen wir keine weiteren „Reformen“ oder „Digitalisierungsstrategien“. Was wir brauchen, ist eine Rückkehr zur Verantwortung. Verantwortung für die Schüler, die verstehen müssen, dass es ohne Einsatz nicht funktioniert. Verantwortung für die Eltern, die verstehen müssen, dass Lehrkräfte keine Lieferanten für Erfolg sind. Und Verantwortung für die Lehrkräfte, die verstehen müssen, dass sie nicht jeden retten können – und es auch nicht müssen.
Die nächste Staffel des Bildungsthrillers hat einen Arbeitstitel:
„Bildung: Jetzt erst recht!“
Spoiler: Die Hauptfiguren ändern sich nicht. Aber das Drehbuch wird umgeschrieben. Und diesmal gibt’s keine Wiederholungen.