Eine kleine Straße, im Herzen des Sauerlandes. Da lebte ich, meine Kindheit. In einem Mehrfamilienhaus. Ein Arbeiterkind am Anfang seines Lebens, das nicht wusste, wo ein und aus… Ich werde mal versuchen, wie es war, mit mir, einem türkischen Mädchen und einer deutschen Oma. Mit kleinen Kindern und großen Freundschaften.
Für unsere Oma, waren wir ein wenig Lebenstraum. Sie für uns ein wenig Oma. Sie hatte eine Tür, an die sie klopfte und fragte: „Ihr Lieben, könnt ihr mir helfen, die Tüten hoch zu tragen!“
Nie durfte die Antwort „nein“ lauten. Das war uns durch unsere Mutter verboten, denn sie war unsere Nachbarin. Ihre Kräfte ließen nach, als wir sie verlassen mussten. Nach und nach gingen wir aus dem Haus. Meine Eltern waren die letzten, die dieses Haus zum Schluss verlassen hatten. Kurze Besuche, in diesem Mehrfamilienhaus, zeigten zum Ende unserer gemeinsamen Geschichte; während wir groß wurden und lernten zu lieben, wie sie uns immer beizubringen versuchte, hatte unsere Oma ihre Einsamkeit, immer größer geschrieben. Ihren Augen sahen wir noch an, dass wir ihr sehr fehlten. Nie ist es uns gelungen, diese Zeit wieder zurück zu holen. Uns fehlten ihre eigens gebackenen Weihnachtskekse. Die Söckchen, die sie strickte, um vorzubeugen, dass unsere kleinen Füße im kalten Winter frierten. Gute Absichten hatten wir miteinander und füreinander. Eines Tages haben wir in der Zeitung gelesen, unsere Oma, hatte sich vom Leben geschieden! Zu der Trauer, hatte unser Vater gebeten, waren wir verpflichtet zu erscheinen, denn sie war unsere Nachbarin. Wir waren unter den Wenigen, die sich in aller Stille von ihr bei der Beerdigung verabschiedeten. Wieder unter den Wenigen waren wir.
Lieber Herr Sarrazin, hören sie auf, die Menschen zu kategorisieren! Hören sie auf, ihre Statistiken und Thesen auf alle zu reflektieren! Ich weiß, wenn es mich in diesem Mehrfamilienhaus, hätte damals nicht gegeben, würde eine Oma, ihre Einsamkeit verewigen!
Teil einer anderen Straße bin ich heute. Die Rollen haben sich etwas geändert. Nicht aber die Rolle der Nachbarschaften und die Dynamik des Teilens. In einer lebendigen Straße, lebe ich heute. Viele Kinder aus vielen Nationalitäten, teilen sich eine Straße, einen Spielplatz, viele Fahrräder und viele Väter und Mütter. Wenn es einer Frau im Winter nicht gelingt, ihren Wagen auszuparken, dann kommen starke Nachbarn mit großen Schüppen, so geht es dann schneller mit dem Weiterfahren.In so einer Nachbarschaft lässt es sich wunderbar und einfach leben! Zu Fußballturnieren werde ich eingeladen und habe den Jungs mal versprochen, ich werde demnächst mal ein paar Tore für Enes und seine Mannschaft jagen. Wenn dann, eine Wassermelone nicht zu schaffen ist zu dritt oder zu viert, dann kann man die Melone mal mit zum Spielplatz tragen und sehen, die große Wassermelone ist nicht für zwei oder drei geschaffen! Wie die große Erde nicht erschaffen ist, für die Großen und Starken alleine.
Wenn es mich hier nicht gäbe, Herr Sarrazin, würde ich heute diesen Kindern sehr fehlen. Ich bin ein Teil dieses Landes. Damals habe ich meine Oma Mühlhause gehabt und heute viele Kinder aus verschiedenen Nationen. Christen und Muslime, ihre Kinder sitzen ganz oft an einem Tisch, erzählen sich viele Phantasiegeschichten. „Jesus wird bald kommen und uns retten. Schweine stinken doch!“, so belehren sich die Kleinen, an diesem Tisch! Wenn es das Schwein nicht zu essen gibt, dann kommt der Fisch, auf den Tisch! Irgendwo treffen sich die Kleinen immer, lebendig und frisch!
Hier, Herr Sarrazin, stehe ich,mitten im Leben. Immer noch hier, wo ich das Leben einst anfing. Während sie meinen, wir, die anderen, würden „Kopftuchmädchen“ produzieren, produzieren diese Mädchen wiederum neue Brücken und Geschichten…
Nadine, aus der Schulzeit, ruft mich an und lässt mich wissen: „Die Bäume, unter denen wir saßen, zu Abi-Zeiten, werden abgerissen, weil dort neue Turnhallen entstehen. Wir treffen uns mit den anderen dort, zum picknicken. Wenn Du magst, sei dabei, denn viel Zeit haben wir dort zusammen, an uns rasen lassen.“ „Ich bin dabei“, antworte ich, natürlich. Diese Bäume und unsere Erinnerungen werden Sie uns nicht nehmen können, denn Bäume haben Wurzeln.
Es soll ihnen keine Angst machen, dass Nadine mich und ich Nadine sehr schätze! Nie haben wir versucht uns gegenseitig zu verändern und zu verbiegen.
Für Frank war ich ein Arbeiterkind und das sollte uns genügen, gegen die anderen, die uns nicht gerne dabei hatten, zusammenzuhalten. Alles, was zu teilen war, wurde von Hand zu Hand weitergegeben…
Ihre Gleichgesinnten, wollten Frank nach der Grundschule in einer Sonderschule, als gut aufgehoben wissen: „Frank hat sieben Geschwister. Ihm wird es schwerfallen, mit anderen Kindern, die bessere Lernatmosphären zu Hause haben, mitzuhalten!“, sei die Begründung damals gewesen. Als Frank uns das, gegen Ende der Abiturzeit erzählte, wussten wir schnell, das war das Schubladendenken.
Dann, als wir unsere Abi- Zeugnisse in unseren Händen hielten, war eines präsent und eines viel wertvoller, als es für andere war:„Wir haben es geschafft!“ Dieser Satz war, gefüllt mit Hoffnung und Perspektive. Frank und andere, ihrer Meinung nach Benachteiligte, die Überflüssigen, in der Gesellschaft, standen vor den Toren verschiedener Universitäten.
Frank hat seine Integrationsgeschichte endlich hinter sich gebracht. Ich stehe hier und weiß nun, auch wenn ich Bücher schreibe und meine Gefühle in Deutscher Sprache mit anderen teile…beliebt bin in meiner Klasse, meinem Jahrgang, bei meinen Lehrern, Straße und in den Nachbarstraßen, werde ich als Ausnahme gesehen und niemals, meine Integration als vollendet betrachten dürfen.
Frank hat es geschafft. Er hat Biologie und Chemie studiert. In unserem letzten Telefonat erzählte er mir, drei seiner Geschwister, sind ebenfalls an der Uni. Er war der Älteste. Er musste Schwierigkeiten überwinden und einige Steine auf seinem Weg, zunächst für sich und dann für seine Geschwister, beseitigen. Wenn einer es schafft, dann kommen andere ihm nach. Der Mensch braucht Fußstapfen. Wäre Frank, damals in die Sonderschule wirklich gegangen, würden seine Schwestern und Brüder es vielleicht nicht schaffen, diese steinigen Wege zu überwinden. Von acht Kindern aus einer Familie sind es schon einmal vier! 50{29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040}! Bis jetzt allerdings nur, andere, Sie können sich sicher sein, werden es ebenfalls schaffen!
Das ist unsere gemeinsame Geschichte, Herr Sarrazin! Die Geschichte einer einsamen Oma, von kleinen Kindern und großen Freundschaften, die leben… Sie produzieren die Unterschiede und die Schubladen. Wir sind fest entschlossen, in Schubladen, können Herzen nicht passen!
Lieber Herr Sarrazin,
seien sie herzlichst gegrüßt von Rana Argan.