1964 kam ein junger Mann mit 27 Jahren nach Deutschland, mein Vater. Ein Jahr zuvor hatte die Bundesrepublik mit der Türkei das Anwerbeabkommen unterzeichnet, und die deutsche Industrie suchte dringend Arbeitskräfte. Mein Vater war einer von vielen, die der Ruf nach Europa erreichte. Sein Weg begann in Gelsenkirchen, wo er im ersten Jahr seiner Ankunft unter Tage in den Kohleminen arbeitete – eine der härtesten Arbeiten, die man sich vorstellen kann. Danach führte ihn sein Weg nach Dortmund, zu Hoesch, wo er für 28 Jahre bleiben sollte. Seine Geschichte ist die eines Mannes, der die Grundfesten seines Lebens auf harter Arbeit, Entbehrung und unerschütterlicher Hoffnung errichtete – und damit auch die dieses Landes mitgestaltete.

Unter Tage: Der erste Eindruck Deutschlands

Als mein Vater 1964 in Gelsenkirchen ankam, fand er sich schnell in den Bergwerken wieder, unter Tage, fernab von Tageslicht und frischer Luft. Die Arbeit in den Minen war eine Arbeit, die von ihm alles forderte. Hitze, Dunkelheit und das ständige Risiko von Unfällen waren der Alltag dieser Männer, die, wie mein Vater, aus der Türkei oder anderen Ländern kamen, um für eine bessere Zukunft zu schuften. Diese harte Arbeit prägte ihn von Anfang an. Es war nicht nur eine Einführung in die Arbeitswelt Deutschlands, sondern auch in die Realität, dass Gastarbeiter oft dorthin geschickt wurden, wo die Arbeit am gefährlichsten und die Anerkennung am geringsten war.

Der Wechsel zu Hoesch: Ein Leben in der Schwerindustrie

Nach einem Jahr unter Tage zog mein Vater nach Dortmund und fand Arbeit bei Hoesch, einer Ikone der deutschen Schwerindustrie. Hier blieb er 28 Jahre lang, ein Lebensabschnitt, der nicht weniger fordernd war als seine Zeit in der Kohleindustrie. Die Tage in der Fabrik waren lang, die Arbeit hart, die Bedingungen rau. Akkordarbeit in einem Stahlwerk war keine Arbeit für schwache Nerven – oder schwache Körper. Doch mein Vater hielt durch. Er war einer von vielen, die das Wirtschaftswunder Deutschlands ermöglichten. Ohne die Arbeit dieser Menschen hätte es keinen Aufschwung gegeben, keine modernen Städte, keine wohlhabende Mittelschicht.

Für meinen Vater war diese Arbeit mehr als nur ein Mittel zum Lebensunterhalt. Es war seine Pflicht, sein Beitrag, seine Verantwortung. Er wusste, dass seine Arbeit das Fundament für die Zukunft seiner Familie war – eine Zukunft, die er sich selbst nicht leisten konnte, aber seinen Kindern ermöglichen wollte.

28 Jahre und ein abruptes Ende

Nach 28 Jahren bei Hoesch kam das Ende seiner Arbeitszeit unerwartet. Mit 56 Jahren wurde mein Vater im Rahmen eines Sozialplans in die Frührente geschickt. Für die deutsche Industrie war es eine Zeit des Wandels. Die Rationalisierung der Produktion bedeutete, dass ältere Arbeiter – die Jahrzehnte ihrer Leben der Industrie gewidmet hatten – als „Kostenfaktoren“ betrachtet wurden. Mein Vater, der sein Leben lang gearbeitet hatte, fand sich plötzlich ohne Aufgabe wieder.

Diese Frührente war für ihn ein schwerer Einschnitt. Nach fast drei Jahrzehnten täglicher Arbeit fehlte plötzlich die Routine, die Struktur, der Zweck. Der Verlust des Arbeitsplatzes war für ihn nicht nur ein finanzieller Verlust, sondern auch ein emotionaler. Die Arbeit hatte ihn definiert, und nun war sie vorbei. Es war, als hätte man ihm ein Stück seiner Identität genommen.

Die stillen Kosten der Arbeit

Die Arbeit bei Hoesch und zuvor unter Tage forderte ihren Tribut. Mein Vater kämpfte mit den körperlichen Spuren, die ein Leben in der Schwerindustrie hinterließ: Rückenschmerzen, Gelenkprobleme, Hörschäden. Doch wie viele Männer seiner Generation sprach er kaum darüber. Klagen war keine Option. Sein Schweigen war nicht Resignation, sondern eine stille Stärke, die ihn und so viele andere dieser Zeit auszeichnete.

Aber die Kosten waren nicht nur körperlich. Der Übergang von einem Leben voller Arbeit zu einem Leben in der Frührente war schwer. Mein Vater war stolz auf das, was er erreicht hatte, aber die gesellschaftliche Anerkennung, die ihm zustand, blieb oft aus.

Ein Vermächtnis, das bleibt

Heute, 60 Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland, ist mein Vater nicht mehr da. 2020 starb er mit 83 Jahren an den Folgen von COVID-19. Sein Leben war eines, das von harter Arbeit und Entbehrung geprägt war, aber auch von Würde und Stolz. Er hat nicht nur eine Familie hinterlassen, sondern auch ein Vermächtnis: die Werte von Durchhaltevermögen, Opferbereitschaft und Glaube an eine bessere Zukunft.

Die Gastarbeitergeneration hat Deutschland verändert. Sie war nicht nur eine Arbeitskraftreserve, sondern eine treibende Kraft des gesellschaftlichen Wandels. Mein Vater und viele wie er waren keine Gäste. Sie waren Baumeister eines neuen Deutschlands – Architekten einer Gesellschaft, die heute von Vielfalt und Stabilität geprägt ist. Seine Geschichte ist ein Teil dieses Landes, und sie sollte niemals vergessen werden.

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Als Integrationsblogger gründete ich 2010 diesen Blog, inspiriert durch die Sarrazin-Debatte. Geboren 1977 in Dortmund als Kind türkischer Einwanderer, durchlebte ich vielfältige Rollen: vom neugierigen Sohn zum engagierten Schüler, Breakdancer, Kickboxer, Kaufmann bis hin zu Bildungsleiter und Familienvater von drei Töchtern. Dieser Blog ist mein persönliches Projekt, um Gedanken und Erlebnisse zu teilen, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Als "Integrationsblogger" biete ich Einblicke in Debatten aus meiner Perspektive. Jeder Beitrag lädt zum Dialog und gemeinsamen Wachsen ein. Ich ermutige euch, Teil dieser Austausch- und Inspirationsquelle zu werden. Eure Anregungen, Lob und Kritik bereichern den Blog. Viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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