In unserem Interview geht der Rechtswissenschaftler und Islamischer Religionspädagoge Prof. Dr. Bülent Uçar auf die Chancen und Herausforderungen des Islamischen Religionsunterrichts (IRU) ein. Diese werde, so sagt er, auf die moralischen und ethischen Einstellungen unserer Jugendlichen einwirken und auch zum Extremismus sowie zur Kriminalität tendierende Jugendliche für die Gesellschaft zurückgewinnen.

Herr Uçar, was wird der islamische Religionsunterricht in NRW bewirken? Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie da?

Zunächst einmal wird der IRU bewirken, dass muslimische Schülerinnen und Schüler in Bezug auf Religionsunterricht nicht mehr benachteiligt werden, da mit der Entscheidung, Islamischen Religionsunterricht grundständig und bekenntnisorientiert einzuführen, keine Sonderbehandlung oder ein Almosen, sondern ein Grundrecht gewährt wird. Mit diesem Recht gehen aber natürlich sowohl Chancen als auch Herausforderungen bzw. Pflichten einher. Die Einführung des IRU bietet der musli­mischen Community die Gelegenheit, ihre Kooperations- und Handlungs­fähigkeit unter Beweis zu stellen. Bekanntlich handelt es sich bei dem Modell in NRW um eine neuerliche Übergangslösung, da ein Beirat gegründet wurde, der die Muslime, welche noch immer nicht als „Religions­gemeinschaft“ im Sinne des Grundgesetzes  anerkannt wurden, in NRW vertreten soll. Die erfolgreiche Implementierung des IRU kann als Bewährungsprobe für die Muslime angesehen werden, an dessen Ende auch eine Anerkennung als Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes steht.

Doch es wartet noch viel Arbeit auf die Muslime. Die größte Herausforderung wird es sein, so schnell wie möglich Lehrer auszubilden, die sowohl den pädagogischen als auch inhaltlichen Anforderungen eines Unterrichts an staatlichen Schulen genügen. Hierbei muss natürlich der Qualität eindeutig der Vorrang eingeräumt werden. In dieser Hinsicht sehen wir uns in Osnabrück gut aufgestellt, werden aber auch wachsen müssen, um die fehlenden Kapazitäten an den Schulen in absehbarer Zeit decken zu können. Die Ausbildung der Lehrer und folglich auch der IRU sind nicht statisch, sondern werden sich entwickeln und stetig verbessern müssen. Hier sind regelmäßige Evaluationen erforderlich und vorgesehen.

Grundlegendes steht schonmal fest: Im Gegensatz zum Islamkundeunterricht wird der islamische Religionsunterricht bekenntnisorientiert gestaltet werden. Was wird sich Ihrer Einschätzung nach noch ändern? Was wird bleiben?

Formal ist diese Änderung zunächst einmal ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität, da der Islamkundeunterricht als Übergangslösung konzipiert wurde. Neben dem bereits erwähnten Anspruch auf bekenntnisorientierten Unterricht bietet dieser sowohl Schülern als auch Lehrern im Rahmen des Unterrichts einen grundlegend veränderten Zugang zum Thema Islam und den im Unterricht behandelten Themen. Sowohl die Lehrer als auch die Schülerinnen und Schüler können sich islamischen und gesellschaftlichen Themen aus der Binnenperspektive nähern. Dies wird auch dazu führen, sich stärker mit der Schule und der Gesellschaft zu identifizieren.

Es ist wichtig zu betonen, dass auch bekenntnisorientierter Unterricht weder einseitig indoktrinieren soll noch das Auswendiglernen von Lehrtexten im Sinn hat. Der Unterricht an den staatlichen Schulen ist auch keine Alternative zu der religiösen Erziehung in den Familien und Moscheen. Vielmehr soll er diese ergänzen. Im Vordergrund steht der Zugang zum inneren Kern des Glaubens, aber auch der analytische und reflektierende Umgang mit den islamischen Glaubens­überzeugungen sind Teil des Unterrichts.

Wie beurteilen Sie die Wichtigkeit des neuen Schulfaches? Wie wichtig betrachten sie dieses für die religiöse, kulturelle Erziehung der muslimischen Kinder und für die sozialpolitische Inklusion/Integration der muslimischen Jugendlichen in die deutsche Gesellschaft?

Was die Bedeutung des Islamischen RU angeht, muss ich zunächst noch einmal wiederholen, dass es auch darum geht, einen Auftrag des Grundgesetzes und damit den Anspruch hunderttausender muslimischer Schülerinnen und Schüler auf religiöse Unterweisung gerecht zu werden. Die Bedeutung kann allein dadurch schon nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die religiöse Unterweisung – ob katholisch, evangelisch oder muslimisch – hat einen Eigenwert. Über den Religionsunterricht können die Religionsgemeinschaften – unter der Aufsicht des Staates – auf die moralischen und ethischen Einstellungen unserer Jugendlichen einwirken und somit auch zum Extremismus tendierende Jugendliche für die Gesellschaft zurück­gewinnen.

Hinzu kommt, dass sich die Muslime durch die Einführung des IRU akzeptiert fühlen werden, sie nehmen keine Sonderstellung ein, welche ihnen das Gefühl vermittelt, nicht dazu zu gehören. Nicht zu vernachlässigen ist die Vermittlung einer islamischen Sprachkom­­pe­tenz. Die Muslime lernen, ihre Religion in deutscher Sprache auszudrücken.

Der IRU kommt aber auch dem Staat und der Gesellschaft zu Gute, da eine demokratische Gesellschaft gerade von ihrer Pluralität und Toleranz lebt – eine Toleranz, die sich auch im Curriculum unseres Islamischen Religionsunterrichts wieder findet.

Dies ist vielleicht eines der wichtigen Schritte in Richtung Normalität. Welche juristischen Barrieren standen bisher auf dem Weg und warum gibt es diese plötzlich nicht mehr?

Hauptproblem in diesem Zusammenhang ist weiterhin die fehlende Anerkennung der Muslime als Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes. Dieses Problem bleibt uns leider zunächst einmal auch mit dem im Dezember 2011 beschlossenen neuen Schulgesetz (in NRW) erhalten.

Trotzdem ermöglicht es die Einführung eines Islamischen Religionsunterrichts, da „(…) das Ministerium übergangsweise bei der Einführung und Durchführung mit einer Organisation oder mehreren Organisationen zusammenarbeiten, die Aufgaben wahrnehmen [kann], die für die religiöse Identität ihrer Mitglieder oder Unterorganisationen wesentlich sind oder die von diesen für die Durchführung des Religionsunterrichts bestimmt worden sind. (…)“[1] Wie in Niedersachsen soll auch in NRW ein „Beirat“ die Interessen und Anliegen der Muslime vertreten. Höchst umstritten ist jedoch, dass vier von den acht Beiratsmitgliedern vom Ministerium bestimmt werden sollen. Nicht nur Muslime, sondern auch die Kirchen befürchten  dadurch eine Einmischung in die Angelegenheiten von Religionsgemeinschaften und eine mögliche Verletzung des Neutrali­tätsgebots durch den Staat. Die Verantwortlichen widersprechen jedoch mit dem Hinweis, dass die Kandidaten des Ministeriums auch gesetzlich nur im „Einvernehmen mit den islamischen Organisationen in NRW“[2] bestimmt werden dürften.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dem Gesetz einerseits große Bedeutung zukommt, da es faktisch erstmalig in NRW einen Islamischen Religionsunterricht ermöglicht. Anderer­seits handelt es sich auch hierbei nur um eine Übergangslösung, nicht zuletzt, weil der zweite Artikel des Gesetzes bestimmt, dass Selbiges am 31. Juli 2019 außer Kraft tritt.

Herr Uçar, wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg in Ihrer Arbeit und bedanken uns für dieses Interview


[1] Schulgesetz NRW §132a

[2] Ebd.

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Studiert Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Derzeit engagiert er sich an verschiedenen Projekten und Institutionen. Dazu gehören politische Hochschularbeit oder auch ehrenamtliches Engagement in diversen Netzwerken und NROs. Er schreibt als freier Autor für verschiedene Publikationen.

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