Foto: Nina Gerlach / CC BY-SA 3.0 (Wikipedia)

Der neue Sarrazin ist da, und ich hab keine Lust mehr. Den ersten Band hatte ich mir seinerzeit zugelegt. Da konnte man einerseits die Akribie des Autors bei der Recherche bewundern, andererseits verwunderte sein Gegenkonzept. Zum Vorschein kam nach langen Tabellen und Zahlenkolonnen ein Tugendwächter anderer Art. Sarrazin ist ein konservativer Vertreter des starken Staates, der sich über die Gesinnungsgleichschaltung von links aufregt und der gleichzeitig keine Skrupel hat, eine solche nach seinem eigenen Gusto zu propagieren. Das Buch über den Euro habe ich mir ebenfalls noch zugelegt. Habe aber in der Mitte die Lektüre abgebrochen. Alle Argumente über die Währung sind ausgetauscht. Alles Weitere ist Wiederholung. Nun also „Der neue Tugendterror“. Und für das Geld gehe ich lieber ein Bier trinken.

Um das vorweg zu sagen: Natürlich bin ich gegen Tugendterror. Der ist allerdings nicht neu. Dem Tugendterror musste sich einst auch Sokrates ausgesetzt sehen. Und auch der „ganz normale“ Zeitgenosse, der sich außerhalb der eingetretenen Spuren bewegte, hat im Verlaufe der Jahrhunderte die höchst ambivalente Bedeutung des Begriffes Tugend erfahren müssen – ganz egal, ob er nun die Herzensdame des „falschen“ Standes liebte oder ob er einfach so lebte, wie er das wollte. Tugendterror ist eine Domäne der Konservativen – einer Spezies, der ich mich lange zugehörig gefühlt hatte. Und weil Linke heute längst Konservative geworden sind, sind sie es auch, die die stinkende Fackel dieser unrühmlichen Kulturtradition weitertragen.

Unehrlicher Kampf gegen politische Korrektheit

Der Konservatismus und auch der organisierte Nationalismus geben sich als Kämpfer gegen die politische Korrektheit. Dieter Stein schreibt im Leitartikel von letzter Woche der Jungen Freiheit, er habe als junger Schüler Demokratie und Meinungsfreiheit für bare Münze genommen und habe an einen freien Austausch von Meinungen geglaubt. Dass dem nicht so ist, habe er erfahren müssen: „Jeder, der ,einfach nur seine Meinung sagen‘ will, stellt irgendwann fest, dass es eine Machtfrage ist, welche Resonanz eine Meinung erhält“. Thilo Sarrazin sei nun das historische Verdienst anzurechnen, ein „tabuisiertes Thema“ auf die Tagesordnung gesetzt zu haben: „Dieser Tabubruch endete fast mit seiner sozialen Vernichtung.“

Nicht erst bei dieser Einschätzung darf man sich fragen, wie ernst man diesen hehren Kampf um die Meinungsfreiheit nehmen kann. Ich kenne ja den Lebensstil des ehemaligen Bundesbankvorstands nicht, aber bei 1,5 Millionen verkauften Exemplaren von „Deutschland schafft sich ab“ dürfte Thilo Sarrazin noch mal gerade so an der sozialen Vernichtung vorbeigeschrammt sein. Und auch, wenn er jetzt von der einen oder anderen Fernsehstation ausgeladen worden ist: Die Publicity für seinen neuen Tugendterrorschmöker, in dem er „schonungslos“ mit einseitigen Medien abrechnet, dürfte nicht nur für große Freude beim Großverleger der „einseitigen Medien“ sorgen. Auch die Existenzvernichtung des Autors dürfte erstmal vom Tisch sein.

Der Kampf gegen politische Korrektheit ist längst zum Kampfbegriff von Menschen geworden, die die Forderung nach Meinungsfreiheit als Deckmantel benutzen, um ihre eigenen Sprachregelungen und Tabuzonen zu installieren. Das konservative und nationale Lager ist selbst in einer Weise durchzogen von Sprechverboten und Tabuzonen, dass es geradezu absurd wirkt, dass ausgerechnet hier die Fahne der Freiheit aufgepflanzt wird. Natürlich kann es zum Ritual werden, wenn man nicht offen über Einwanderung sprechen kann. Die Kehrseite ist aber, dass rechts ebenso wenig offen darüber Debatte geführt werden kann. Was würde wohl passieren, wenn in der Jungen Freiheit die Meinung geäußert würde, dass wir trotz EU-Osterweiterung nicht von Heerscharen asylsuchender „Kostgänger“ „überflutet“ werden. Die Rechte lebt vom hysterischen Ruf „Es brennt“, während die Linke heute nach dem Motto „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ handelt. Beide Phänomene sind zwei Seiten einer Medaille.

Die Tabuzonen der Rechten

Warum nimmt man nun Henryk Broder den Unwillen gegen Spießigkeit und Tugendterror ab und Thilo Sarrazin nicht? Broder verbreitet ätzende Kritik gegen den Typus vernagelter Mensch, behauptet aber von sich selbst nicht, eine Heilslehre in der Tasche zu haben. Sarrazin beklagt hingegen Tugendwächter und lässt doch gleichzeitig keine Sekunde lang einen Zweifel daran, dass er selbst die Wahrheit kennt und die reine Lehre verbreitet. Das lässt keinen Raum für Widersprüche, obwohl der Widerspruch für das menschliche Wesen konstituierend ist. Wenn Sarrazin bei Veranstaltungen niedergebrüllt wird, so ist das in höchstem Maße unkultiviert.

Es ist aber vor allem auch eine Reaktion auf das gleiche Verhaltensmuster, in dem sich der Bestsellerautor bewegt. „Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus“ sagt der Volksmund. Und hat damit wie so oft Recht. Das bedeutet nicht, dass ich den Störern das Wort rede oder jenen, die früher Brandanschläge auf die Druckereien der Jungen Freiheit androhten. Es heißt nur, dass nicht Gelassenheit erwarten kann, wer selbst nicht gelassen ist. Je mehr man selbst polarisiert, umso weniger kommt die tatsächliche Wahrheit zur Geltung. Deshalb mag der Impuls, neuen und alten Tugendterror zu bannen, richtig sein. Das geht aber nur, wenn man sich selbst diesen Mustern entzieht und im besten Sinne eine liberale Auffassung pflegt.

So aber werden sich die Antagonisten des Tugendwettbewerbs über die nächsten Wochen hinweg wieder zoffen. Beide werden daran verdienen. Allerdings nicht auf meine Kosten.

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Ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er studierte Deutsch, Geschichte und Politik in Göttingen und war acht Jahre lang Lehrer an einer Waldorfschule. Als Publizist und Politiker arbeitete er viele Jahre im extrem rechten Milieu. Im Juli 2012 stieg er aus dieser Szene aus. Seitdem engagiert sich Molau in Sachen Extremismusprävention bei Seminaren, Vorträgen und in Aufsätzen. Heute ist er selbstständig für das Textbüro dat medienhus tätig.

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