Spätestens nach dem Scheitern des Putsches in Moskau war klar, dass die Sowjetunion aufgehört hatte, ein politischer Faktor zu sein. Eigentlich konnte man meinen, von nun an würde auch alles, was in den Jahrzehnten zuvor falsch gelaufen wäre, sich wieder normalisieren und eine Art Re-Adenauerisierung stattfinden. Doch es kam nicht so: Die Kirchen wurden nicht wieder voller; die Fernsehsendungen nicht wieder gepflegter und kultivierter; es wurden nicht weniger Ehen geschieden, mehr Kinder geboren oder Abtreibungen geächtet; die Gossensprache verschwand nicht aus dem öffentlichen Raum; religiöse oder patriotische Werte erlebten keine Renaissance; stattdessen illustrierten Techno-Musik und Nachmittagstalkshows in den 90er-Jahren einen besonders stark spürbaren kulturellen Niedergang. Und das ganz ohne Russen, die selbst mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten.

Das politische Agieren westlicher Länder in der Welt wurde vielfach nicht mehr als von moralischen Prinzipien geleitet, sondern als willkürlich wahrgenommen. Auch berechtigte Formen der Interessenspolitik wie der Krieg gegen den Terror lassen aus heutiger Sicht Fragen offen, zumal sie Begleiterscheinungen zeitigten, die auch vielfach in verbündeten Ländern für Unverständnis sorgten – wobei aus meiner Sicht allerdings auch zum Teil sehr genau hingesehen werden sollte, ob eine Kritik am Vorgehen der USA sachlich nachvollziehbar ist oder ob es sich um den Ausdruck eines ideologischen, antiamerikanischen Ressentiments handelt; in der Regel überwiegt erfahrungsgemäß Zweiteres.  

Zu einem besonders hässlichen Beispiel für Doppelzüngigkeit und ideologisierte Politik entwickelte sich im Laufe der Jahre vor allem die Europäische Union, die immer stärker selbst Anwandlungen entwickelte, die man von der früheren UdSSR kannte: Zentralismus, Dirigismus, Unfreiheit und eine proaktive neomarxistische Politik nach innen und außen, die sich vor allem während der Ära Bush auch als Antithese zu den USA inszenierte.

Die Entwicklung in der Ukraine dürfte nun die alten Reflexe aus der Zeit des Kalten Krieges wieder verstärken. Allerdings stellt sich die Frage, ob eine Neuauflage desselben wieder – ähnlich wie früher – die Rückendeckung seitens der Bevölkerung finden würde. Und es mehren sich die Anzeichen, dass die Angst vor „dem Russen“ langsam ausgelutscht wäre. Vor allem dürften viele früher verlässliche Verbündete, etwa Konservative, diesmal nicht mehr so vorbehaltlos die antirussische Stimmungsmache verinnerlichen.

Hüter der freiheitlichen Zivilisation?

Denn abgesehen von den Neonazis, die wie selbstverständlich als Teil der „Euromaidan“-Bewegung akzeptiert werden, und von der Frage, warum Russland nicht seinen Einflussbereich schützen dürfte, wie die USA es ja selbstverständlich auch machen, stellt sich grundsätzlich die Frage: Hat „der Westen“ heute wirklich noch irgendeine glaubwürdige Legitimation, um sich jetzt gegenüber Moskau als Wächter einer freiheitlichen Zivilisation aufzuplustern?

Machen wir doch eine Bestandsaufnahme, und wir werden sehen: Europa hat aus seiner totalitären Vergangenheit nichts, aber auch gar nichts gelernt. Kommunismus und Nationalismus sind stärker präsent als je zuvor, Ersterer modifiziert durch die freiheitsfeindliche Ökoideologie; Sarrazin und seine Kumpane kochen den gleichen Dreck wieder auf, der vor 100 Jahren als Eugenik die Tore zum Massenmord öffnete;vor Lampedusa gibt es Schüsse auf Flüchtlinge und jede Woche sterben Menschen; im Estrela-Report soll das Töten ungeborener Kinder zum „Menschenrecht“ erklärt werden; wir haben nicht mehr nur pädophile Künstler, sondern auch pädophile Politiker;Antisemitismus, auch gerne als „Israelkritik“ getarnt, ist wieder salonfähig; seuchenartig verbreitet sich hasserfüllte Stimmungsmache gegen Muslime samt Forderungen an die Politik, diesen „die Grenzen aufzuzeigen“; wegen einer Handvoll Roma, die wie in den Jahrhunderten zuvor als Menschen zweiter Klasse behandelt werden und jetzt vielleicht nach Westeuropa kommen könnten, wird die Personenfreizügigkeit in der EU in Frage gestellt; Christen werden ins Gefängnis gesteckt, weil sie ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen;an Schulen wird einstweilen Sechsjährigen der Geschlechtsverkehr in epischer Breite geschildert, auf der Basis desBildungsplans 2015 soll ideologische Umerziehung betrieben werden; Berlins Bildungssenatorin Dilek Kolat ruft sogar zur Denunziation innerhalb der Familien auf, wenn sie, wie die BZ berichtet, fordert, der Lehrer solle auch über die Eltern wachen und: Wenn diese ihr Kind nicht „nach dessen empfundenem Geschlecht anreden“, so sei zu prüfen, „ob eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt“.

In den USA selbst wurde kürzlich das Tragen der Nationalflagge auf T-Shirts in der Schule von einem Bundesgericht untersagt, weil sich Nichtamerikaner dadurch potenziell beleidigt fühlen könnten.

Ja, was ist es denn nun, was wir im „Kalten Krieg 2.0“ gegen die bösen Russen verteidigen sollen? Die DDR 2.0, die wir selbst in unseren Ländern schleichend schaffen?!

Kein Blut für leistungsschwächere Staubsauger!

Es ist zu hoffen, aber auch sehr wahrscheinlich, dass die Redaktionsstuben der selbsternannten „Qualitätspresse“ und profilierungssüchtige Politiker einiger Parteien ihren „Kalten Krieg“ diesmal weitgehend alleine bestreiten werden. „Für Europa sterben“, wie es Michael Wolffsohn in der Springerpresse anspricht, können sie diesmal alleine. Die Mehrzahl der Menschen will für das Reich der Staubsaugerstärkenverordnungen und Glühbirnenverbote nicht einmal Einschnitte im Lebenswandel hinnehmen.

Um mich nicht falsch zu verstehen: Ich bin und bleibe ein glühender Pro-Amerikaner. Die USA haben mit ihrer Unabhängigkeitserklärung und ihrem freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsverständnis einen Leuchtturm für die Welt geschaffen und wir verdanken ihnen mehr als nur unsere Freiheit und die Überwindung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und der Bedrohung durch den Kommunismus aus Osteuropa. Aber jetzt gibt es keinen Grund mehr, die totalitäre Bedrohung dort zu vermuten. Sie ist eher in unseren Ländern selbst. Und wer Russland von Alleingängen abbringen will, der soll Putin gefälligst als wichtigen politischen Faktor in Europa und der Welt anerkennen und mit ihm zusammen Lösungen suchen, die auch seinen Interessen gerecht werden.

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Jg. 1973, ist allein erziehender Vater, freiberuflicher Lektor, Lerncoach und Kommunikationsdienstleister. In diesem Rahmen ist er unter anderem Redakteur beim "Deutsch-Türkischen Journal", Betreuer der Wirtschaftsblogs "Wirtschaft Global" und der "Blickpunkt"-Reihe aus dem Hause der ADMG Publishing Ltd. (Saigon). Er lebt in Bernburg/Saale.

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