Im Koalitionsvertrag haben SPD und CDU/CSU vereinbart, die sogenannte „Optionspflicht“ für Einwandererkinder abzuschaffen, um damit einem modernen, zeitgemäßen Staatsangehörigkeitsgesetz den Weg zu ebnen. Dieser sieht vor, dass Kinder von Zuwanderern die doppelte Staatsbürgerschaft erhalten dürfen, aber nur dann, wenn sie „in Deutschland geboren und aufgewachsen“ sind.
Vor allem der Begriff „aufgewachsen sein“ lässt sich jedoch weit auslegen. Um zwei Pässe zu erhalten reicht es demnach, wenn ein Kind in Deutschland geboren wurde („ius soli“ bzw. Geburtsort- oder Territorialprinzip) und einen Teil seines Lebens hier oder im Ausland verbracht hat. Im Vertrag steht aber nichts Näheres darüber, welchen Teil und Zeitabschnitt seines Lebens ein Kind jeweils im In- oder Ausland verbringen darf. Nach einem Entwurf des Bundesinnenministeriums müssten Kinder von Einwanderern mindestens zwölf Jahre in Deutschland gelebt und einen großen Teil ihrer Jugend im Land verbracht haben, um beide Pässe zu erhalten. Wenn dies nicht der Fall wäre, sollten sie zur Erlangung beider Pässe ferner einen deutschen Schulabschluss nachweisen können.
Schon wieder doppeltes Spiel der SPD
Auf der anderen Seite haben die rot-grün regierten Bundesländer Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein im Februar dieses Jahres einen eigenen Antrag zur Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes vorgelegt, der am Freitag im Bundesrat auf die Tagesordnung kommen sollte. Die SPD Nordrhein-Westfalen, die das Abstimmungsverhalten der SPD-regierten Länder im Bundesrat koordiniert, rechnet dem Antrag jedoch kaum Erfolgschancen zu. Außerdem, so ist aus Kreisen der SPD zu hören, werde es keine Maximalforderungen geben.
Machtspiele der Bundes- und Landesparteien
Seit den letzten Landtagswahlen in Niedersachsen gibt es im Bundesrat eine rot-grüne Mehrheit. Wenn die SPD, die im Bund jedoch mit der CDU koaliert, im Bundesrat der Reforminitiative zustimmen würde, wäre dies ein herber Rückschlag für die regierende Große Koalition im Bund.
Daher werden sich vor allem der machthungrige Parteiführer Gabriel sowie Generalsekretärin und Sozialministerin Andrea Nahles auf keine Experimente einlassen und neben ihrem politischen Gewicht auch ihre Überzeugungskraft einsetzen, um auf die Landesgenossen einzuwirken. Die SPD wagt also einen Spagat zwischen schwarz-rot und rot-grün. Deshalb wird auch dieser Anlauf für eine grundlegende Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, wie so oft in der Vergangenheit, kläglich scheitern. Obwohl die Abgeordneten ihrem Gewissen verpflichtet sein sollten, werden sie sich der – wie es so schön heißt – „Fraktionsdisziplin“ unterordnen müssen. Es geht der SPD schlicht um das Weiterregieren, also darum, die „eigene Haut“ im Bund zu retten.
Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Thomas Strobl soll laut Medienberichten gar der SPD mit einer Blockade gedroht und ein Scheitern der schwarz-roten Koalition angedeutet haben, falls die SPD-Bundestagsfraktion einem angeblich „vertragswidrigen“ Länderentwurf zustimmen sollte. Aber die rot-grün regierten Länder weisen auf ihre föderalen Eigenständigkeitsrechte hin, die ihnen die Verfassung garantiert. Wer die föderalen Strukturen missachtet, nimmt die Verfassung nicht ernst. Nicht ohne Grund wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und der Nazi-Diktatur die Bundesrepublik mit einem Zweikammersystem konzipiert. Dieses demokratische Modell der „checks and balances“ darf nicht in Frage gestellt werden.
Optionspflicht ist „fauler Kompromiss“
Die 1999 im Einvernehmen zwischen der damaligen rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder und der Opposition geschaffene „Optionspflicht“, wurde schon damals als „fauler Kompromiss“ bezeichnet. Sie sieht vor, dass ein in Deutschland geborenes Kind ausländischer Eltern automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit neben der Staatsbürgerschaft der Eltern erhält, wenn sich ein Elternteil seit mindestens acht Jahren in Deutschland aufhält.
Doppelte Standards schaden der Glaubwürdigkeit der Parteien
Das Kind muss sich jedoch mit Eintritt der Volljährigkeit entweder für die Staatsangehörigkeit seiner Eltern bzw. des Elternteils oder für das Land, in dem es geboren wurde, entscheiden. Fällt die Entscheidung nicht bis zum 23. Lebensjahr, geht die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch verloren. Ausgenommen sind eigenartigerweise Kinder und Jugendliche aus EU-Staaten, den USA, Schweiz und weiteren Nationen. Diese Regelung, die nach Willkür und Ausgrenzung riecht, trägt vor allem bei der großen Mehrzahl der türkischen Jugendlichen und deren Eltern zur Verunsicherung bei.
Mehrfachidentitäten in der globalisierten Welt sind Normalzustand
Viele Mädchen und Jungen, die vor allem verwandtschaftliche Beziehungen in die Türkei haben, möchten gerade deshalb beide Staatsangehörigkeiten behalten, weil sie sich sowohl in der Türkei als auch in Deutschland heimisch und wohl fühlen. Diese Jugendlichen sind hier geboren, aufgewachsen, sozialisiert und loyale Bürger dieses Landes. Sie weisen aber auch eine besondere, vor allem emotionale Verbundenheit mit dem Land ihrer Eltern und Großeltern auf. Daher ist zu beobachten und festzustellen, dass diese Jugendlichen nicht in „Entweder/Oder“-, sondern in „Sowohl/Als auch“-Kategorien denken und fühlen.
Es gibt so viele Identitäten wie es Menschen gibt
Menschen in eine einzige Identität hineinpressen zu wollen, ist scheinheilig. Der indische Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Soziologe Amartya Sen bezeichnet diesen Vorgang als „Identitätsfalle“. Auch die Frage, zu wie viel Prozent man sich als Deutscher und zu wie viel Prozent als Türke, Araber oder einer anderen Ethnie zugehörig fühlt, ist absurd. Man kann sich zu 100 Prozent als Türke fühlen und ebenso zu 100 Prozent als Deutscher, aber auch zu 100 Prozent als Bayern-München-Fan, Thüringer oder als Umweltaktivist oder Gummibärchenliebhaber. Es ist ein Reflexionsprozess, der sich in jedem Einzelnen abspielt und bei allen verschieden.
Weltpolitik mit alten Maßstäben wird nicht funktionieren
Die eindimensionale Denkweise scheint aber für manche „alten“, konservativen Köpfe immer noch als Maßstab zu gelten. Deutschland ist aber ein Land, das sich wandelt. Ein Land, das dabei ist, vielfältiger zu werden und mehrdimensional zu denken. Ein Land, das nun offiziell, wenn man die letzten Verlautbarungen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU), Bundespräsident Joachim Gauck oder Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) analysiert, im „Konzert der Mächte“ mitspielen sowie an der Weltpolitik(!) teilhaben möchte.
„Reformatierung“ der konservativen Köpfe
Aus diesem Grund war es einer der größten politischen Fehler der jüngeren Zeit, Christian Wulff keine Chance gegeben zu haben. Er hatte im Gegensatz zu den alten, konservativen und teilweise nationalistischen Betonköpfen erkannt, dass man nicht einfach auf die drei bis fünf Millionen Deutschen mit türkischen und muslimischen Wurzeln verzichten kann. Im „Konzert der Mächte“ darf man so ein Potenzial nicht leichtfertig anderen Staaten überlassen, die im Übrigen sehr dankbar dafür sein werden, und sich dann wundern, wieso man es nicht schafft, seit 60 Jahren eine Willkommensmentalität herzustellen. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff hatte mit seinem Konzept die Herzen der patriotischen, deutschen Muslime gewonnen. Anderen sind diese Herzen wohl ganz egal. Um ihre Herzen erneut zu gewinnen, benötigen manche Köpfe wohl eine prinzipielle Reformatierung.
Derzeitige integrationspolitische Nische führt in eine Sackgasse
Dies sollten gerade auch jene Parteien berücksichtigen, die in letzter Zeit, z.B. bei den Wahlen in Niedersachsen, nur sehr knapp verloren haben – nicht zuletzt, weil sie den großstädtischen, migrantischen, vielfältigen und unterschiedlichen Menschen dieses Landes, die ein fester Teil Deutschlands sind, kein glaubwürdiges politisches Angebot machen konnten. Es ist nicht anders zu erwarten von diesen Parteien, dass sie an der Staatsbürgerschaftsreform ihr konservatives Profil zu schärfen versuchen. Die Wahlen zum Europaparlament am 25. Mai und weitere Kommunalwahlen in zehn Bundesländern stehen bevor. Und jene Parteien haben sich im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik in ihrer eigenen Nische verfangen, aus der sie, zumindest jetzt, nicht herauskommen. Sie befinden sich in einer Sackgasse. Leider gibt es derzeit auch keinen wie Christian Wulff, der diese Parteien aus dieser Sackgasse lotsen könnte.