Bildquelle: Markus | CC BY-NC-SA 2.0 | Kinder vom Heim | Flickr
¨Was, du bist im Heim aufgewachsen?¨
¨Wie hast du es geschafft trotz allem, was in deiner Vergangenheit passiert ist, die Schule und jetzt das Studium durchzuziehen?¨
¨Wie konntest du das Ganze finanzieren?¨
¨Fehlt dir nicht was in deinem Leben?¨
¨Was hat dir geholfen, die Situation durchzustehen?¨
Das alles sind Fragen, mit denen ich mich konfrontiert sehe, wenn ich jemanden aus meinem Bekannten- und Freundeskreis von meiner Jugend erzähle. Ich selbst bin mit 14 Jahren von zu Hause ausgezogen und wusste erst mal nicht ganz genau wohin. Grund für meine ¨Flucht¨ waren schwerwiegende Probleme und Differenzen mit dem neuen Mann meiner Mutter, der mich nicht als Sohn akzeptierte und das Abitur als überbewertet und unnötig betrachtete. Seiner Meinung nach reiche ein Hauptschulabschluss, und dann sollte ich doch gefälligst arbeiten gehen.
Da ich jedoch immer schon studieren wollte, habe ich mich für einen Auszug entschlossen und wurde vom Jugendamt unterstützt; dies jedoch auch erst, als die ganze Angelegenheit schon lange bekannt war und ich schlussendlich ein Zeichen gesetzt habe, indem ich nicht mehr nach Hause gegangen bin, um Schikanen und Zurechtweisung zu umgehen.
Gemeinschaft trotz Differenz
Daraufhin wurde ich in eine sogenannte Wohngruppe gebracht, die Jugendliche von 12-18 Jahren beherbergt und eine ständige Betreuung durch Sozialarbeiter gewährleistete. Anfangs war dies jedoch ziemlich schwierig für mich, da ich mich vielen neuen Reizen ausgesetzt sah: die üblichen Kinder und Jugendlichen in solchen Einrichtungen waren meistens aus bildungsfernen Schichten, besuchten selten überhaupt eine Art von Schule und hatten kriminelle Karrieren. Da wurde ich als Gymnasiast anfangs komisch beäugt und auch alleine darauf reduziert. Über die Jahre jedoch hat ein Prozess stattgefunden, der uns alle zusammengeschweißt hat, und das Bewusstsein verankert hat, das unser Schicksal dasselbe ist und wir durch Zusammenhalt und gegenseitige Hilfestellungen viel mehr erreichen können.
In dieser Zeit, in der ich viel nachgedacht habe – sowohl über mich als auch über Gründe, mit denen ich das Ganze verdient habe – sucht man Aspekte und Punkte in seinem Leben, die einem Halt geben. Zuallererst waren das Freunde, die einen trotzdem noch als den gleichen Menschen akzeptierten, aber auch eine Institution wie die Schule, die einen geregelten Rahmen vorgab und tagsüber die Möglichkeit, alle Probleme, Ängste und Zweifel hinter sich zu lassen. Unterstützung aus der Wohngruppe gab es bei allerlei Problemen zur Genüge; das aktive Einfordern jedoch fiel mir oft schwer.
Ohne Hilfe der Institutionen
Und ja, man fühlt sich oft vom Staat bzw. den zuständigen Institutionen im Stich gelassen. Man wird nicht als Mensch behandelt, sondern als Produkt. Anliegen werden meist nicht ernst genommen, Anträge auf Finanzierungshilfen für Klassenfahren müssen fast schon flehentlich vorgetragen werden, damit sie nicht im Beamtenapparat verschwinden und erst nach einem halben Jahr bearbeitet werden.
Entgegen aller Vorurteile und Gerüchte ist es nicht so, dass ein Heim oder eben diese Wohngruppen voller Hauptschüler ohne Perspektive sind; im Gegenteil: Die meisten Jugendlichen wollen etwas erreichen, nur haben sie meistens nicht gelernt wie und sind mit ihren persönlichen Problemen so sehr beschäftigt oder fühlen sich alleine gelassen. Vorurteile, die einem von Menschen entgegengebracht werden, die keinerlei Kenntnis über die Geschichte und Verhältnisse eines Jugendlichen im Heim haben, verstärken dieses Konglomerat an Problemen nur.
Eine Lösung finden
Ziel muss es sein, den eigenen Antrieb zu finden, sich selbst Ziele zu setzen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese kann psychologischer Natur sein; es reicht oft jedoch auch aus, Gespräche mit vertrauten Personen zu führen. Oft lösen sich diverse Blockaden auf und es eröffnen sich Perspektiven v.a. in bildungstechnischer Hinsicht.
Meine Leistungen sind nach solchen Gesprächen, neuen Zielen und Zukunftsperspektiven sogar deutlich angestiegen, sodass ich selbst 2011 das Abitur erfolgreich bestanden habe. Glücklicherweise, und das ist herauszuheben, wurde mir gewährt auch mit Vollendung des 18. Lebensjahres noch in der Wohngruppe leben zu können; dies ist in anderen Kommunen nicht so und meines Erachtens nach ein riesiges Manko der Jugendämter in Deutschland. Sollen Jugendliche, die mit 18 Jahren noch keine abgeschlossene Ausbildung oder keinen Schulabschluss haben, einfach auf die Straße gesetzt werden? Möchte man ihnen den einzigen Halt nehmen? Ist das soziale Gerechtigkeit, die in Deutschland von führenden Politikern immer propagiert wird?
Schutzräume für junge Erwachsene
Als Betroffener kann ich mich nur dafür starkmachen, hier regulatorisch anzusetzen und Volljährigen ohne Kontakt und Bezug zu ihren Eltern eine weitere Perspektive nach dem 18. Geburtstag zu geben. Diese Unsicherheit über das weitere Verfahren macht es nur unnötig schwerer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wenn man schon kein Glück mit seiner Familie hatte, sollte nicht noch der institutionelle Rahmen durch das Raster fallen lassen und einem das Gefühl geben, alleine zu sein. Dieser Umstand hat mich bereits damals erzürnt und sauer gemacht; auch heute noch pflege ich Kontakt zu alten Mitbewohnern und muss leider feststellen, dass es dem Großteil nicht so gut ergangen ist wie mir.
Darüber hinaus muss eine kleine Starthilfe in den Beruf/das Studium/das Ausbildungsverhältnis geboten werden. Abgesehen von einer Erstausstattungspauschale von 1000 € für das Einrichten der neuen Wohnung/des neuen WG-Zimmers (die zweckgebunden ist) gibt es keinerlei finanzielle geschweige denn beratende Unterstützung.
Der Weg ins Studium
In meinem Fall war dies sehr umständlich: Da ich mein Studium zu Zeiten begonnen habe, als es noch Studiengebühren gab und das BAföG-Amt keinerlei Vorschuss gewährt, müssen hier erschwerend Finanzierungsmöglichkeiten gesucht werden. Auch ein Umzug, die Kaution eines WG-Zimmers oder einer Wohnung müssen bezahlt werden. Jedoch bleibt man mit diesen Problemen komplett alleine; es gibt keinerlei Anlaufstellen bzw. Hilfen für solche Angelegenheiten. Auf die Gefahr hin, dass der Einwand kommt, man könne ja arbeiten gehen: Wenn man Jugendhilfe in Anspruch nimmt, wird ein Großteil des Einkommens einbehalten. Man finanziert sich durch Arbeit selbst seinen Jugendhilfeplatz – meiner Meinung nach ist das an Absurdität und Ungerechtigkeit kaum zu übertreffen.
Es ist traurig, dass der Zugang zu Bildung gerade Jugendlichen mit schwierigem Hintergrund aufgrund finanzieller Aspekte verwehrt bleibt. Ich kann jedem nur raten, sich in solchen Fällen der Möglichkeit anzunehmen, Stipendien und Stiftungen aufzusuchen und dort auf Hilfe zu bauen. So schade es klingen mag, (Aus-)Bildung ist kein Gut, das für jeden zugänglich ist. Wenn man jedoch wirklich selbstverantwortlich handelt und sich mit allem Eifer dahinter klemmt, kann man eine Lösung finden. Auch wenn einen unser Sozialstaat in dieser Hinsicht oft alleine lässt.
Ungerechtigkeit und Unsicherheit als steter Begleiter
Rückblickend kann ich sagen, dass diese Zeit mich sehr viel Kraft gekostet hat und mich oft auch traurig und wütend gemacht hat, da ich in einem System aufwachsen musste, welches bereits gebrandmarkte Jugendliche nur begrenzt Perspektive bieten kann und sie überdies oftmals „im Regen stehen lässt“. Diese Ungerechtigkeit und Unsicherheit ist ständiger Begleiter. Jedoch möchte ich die Zeit nicht missen, da sie aus mir den selbstverantwortlichen Menschen gemacht hat, der ich heute bin.
Ist es jedoch notwendig, dass ein 14-Jähriger bereits Träume aufgibt, da er keine Chance auf Realisierung sieht? Dies ist ungeheuerlich und muss dringend geändert werden. Im Endeffekt ist man als „Heimkind“ in den meisten Bereichen des Lebens, in dem normalerweise Eltern unterstützend agieren, auf sich alleine gestellt und muss sich organisieren. Und da die Trennung von den Eltern an sich sehr schmerzhaft und schwierig ist, sollte den Jugendlichen nicht noch weiter die Hoffnung auf Verwirklichung ihrer Ziele genommen werden.