Seit Ende September ist Aschraf Ghani der neue Präsident Afghanistans. Die Präsidentschaftswahl 2014 mar-kierte den ersten demokratischen Machtwechsel in der Geschichte des Landes. Mit dem Abzug der ISAF-Truppen steht Afghanistan jedoch eine äußerst unsichere Zukunft bevor.
Das über Jahrzehnte kriegs- und terrorgeplagte Land ist dringend auf eine kompetente und zuverlässige, von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptierte Regierung angewiesen. Besonders vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Ghanis Vorgänger Hamid Karzai bei der Lösung entscheidender Probleme bestenfalls mäßiger Erfolg be-schieden war. So wird Afghanistan weiterhin vom Terror seitens der Taliban ebenso bedroht wie von einer über-bordenden Korruption und gravierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
Reformer und Warlords stellten sich zur Wahl
Daher fand die Präsidentschaftswahl am 5. April unter regem nationalen wie internationalen Interesse statt. Nach zwei Amtsperioden war Hamid Karsai das erste afghanische Staatsoberhaupt, das freiwillig aus dem Amt schied und einem demokratischen Machtwechsel Platz machte. Von zunächst elf Kandidaten waren am Ende acht zur Wahl angetreten. Was gemäß westlicher Vorstellungen reichlich bizarr anmutet: Unter ihnen und ihren Stellvertretern bewarben sich auf völlig legalem Wege neben säkular orientierten Reformern und Liberalen auch Warlords, Drogenbarone und Kriegsverbrecher um das höchste Amt des Staates. Diese höchst umstrittenen Kandidaten waren samt ihren Milizen während des Widerstands gegen die Sowjetbesatzung, in den Bürger-kriegswirren der 1990er Jahre und beim Sturz der Taliban ab 2001 an zahlreichen Gräueltaten und Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen. Bis heute wurde keiner von ihnen dafür je zur Rechenschaft gezogen. Seit dem Ende des Talibanregimes fungieren die ehemaligen Milizen offiziell als Parteien und schon Karzai hatte diverse Kriminelle, Kriegsverbrecher und Drogenbarone mit Regierungsposten belohnt, statt sie vor ein Gericht stellen zu lassen.
Als aussichtsreichste Kandidaten kristallisierten sich im Wahlkampf rasch Abdullah Abdullah und Aschraf Ghani Ahmadsai heraus. Abdullah Abdullah ist Mediziner und praktizierte in den 1980er und 1990er Jahren als Augenarzt, verfolgte aber schon zu dieser Zeit auch eine politische Karriere. Während der Invasion der Sowjets schloss er sich als Freund und Berater dem berühmten Mudschaheddin-Kämpfer Ahmad Schah Massud an. Unter der Regierung Karzai war er von 2001 bis 2005 Außenminister. Er ist Sohn paschtunisch-tadschikischer Eltern, was eigentlich in Afghanistan als Ausschlusskriterium für das Amt des Staatspräsidenten gilt. Aschraf Ghani hingegen gilt als intellektueller Paschtune und moderater Reformer. Er hatte in den USA Politikwissen-schaften studiert und danach als Weltbankmanager gearbeitet. Unter Karzai amtierte er von 2002 bis 2004 als Finanzminister. Während des Wahlkampfs festigte Ghani seine politische Basis, nachdem er General Abdul Raschid Dostum, den berüchtigten usbekischen Warlord und Milizführer aus dem Norden, zu seinem Stellvertre-ter erklärt hatte. Dostum, der sich mit Vorliebe als Volksheld und Militärchef inszeniert, soll persönlich mehrfach an Folter und Mord beteiligt gewesen sein. Außerdem wird er beschuldigt, den Opium- und Heroin-Handel in großem Stil zu lenken und davon zu profitieren.
Konflikte um die nötige Stichwahl brachten das Land an den Rand eines Bürgerkriegs
Abdullah Abdullah erzielte im ersten Wahlgang ein beeindruckendes Ergebnis von fast 45 {29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040} der Stimmen, verfehlte aber die absolute Mehrheit, weshalb im Juni eine Stichwahl zwischen ihm und dem zweitplatzierten Aschraf Ghani (31,5 {29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040}) anberaumt wurde. Bei dieser Stichwahl erlangte Ghani überraschenderweise die absolute Mehrheit und die Wahlkommission erklärte ihn zum Sieger der Präsidentschaftswahl. Abdullah protestierte. Er und seine Anhänger warfen Ghani Betrug und Wahlfälschung im großen Stil vor. Abdullah erklärte sich selbst zum Sieger und drohte mit der Bildung einer Parallelregierung. Ein sich monatelang hinziehender heftiger Politstreit entbrannte. Die Wahlen drohten das Land ins Chaos zu stürzen. Es kam zu massiven Protesten, die das Land nicht nur destabilisierten und in eine handfeste politische Krise stürzten, sondern bürgerkriegsähnliche Zustände hervorriefen.
Die meisten Afghanen fühlten sich von den Politikern um ihre Stimme betrogen. Sieben Millionen Wähler waren bereits im April zu den Urnen geeilt, um die Zukunft des Landes mitzubestimmen, allen Anfeindungen der Taliban zum Trotz. Schon vor der Wahl hatten die Taliban zum Wahlboykott aufgerufen und mit Anschlägen gedroht. Ihre Propagandaabteilung hatte die Wahlen als vom Westen manipuliert bezeichnet. In Kabul war die Wahl dennoch weitgehend ruhig verlaufen, wohingegen es in anderen Gebieten und Städten zu zahlreichen Zwi-schenfällen kam und Wähler von den Taliban attackiert wurden. Mehrere Dutzend Menschen wurden dabei getötet. Allein zur Zeit der Stichwahl im Juni verübten die Taliban weit mehr als 100 Anschläge. Aus Rache hackten ihre Kämpfer vielen Wählern nach dem Urnengang den Finger ab.
Die Regierung der Nationalen Einheit
Im September wurde der Konflikt endlich beigelegt. Dank der Intervention von US-Außenminister John Kerry, der zwischen den beiden Kandidaten in Kabul vermittelt hatte, konnte eine Neuauszählung der Stimmen angeregt und damit der entscheidende Durchbruch erzielt werden. Das neue Staatsoberhaupt verständigte sich mit seinem politischen Rivalen Abdullah Abdullah auf eine Regierung der nationalen Einheit. Künftig werden zum ersten Mal zwei Männer das Schicksal Afghanistans bestimmen. Am 29. September 2014 wurden Ghani als neuer Präsident und Abdullah als Regierungsvorsitzender in Kabul vereidigt. Das neue afghanische Staatsober-haupt kündigte eine Dekade des Übergangs an. Korruption, Geldwäsche und das Problem des bisher kaum ein-dämmbaren Drogenanbaus möchte Ghani entschlossener als die Regierung Karzai bekämpfen. Versprochen wurden auch der Schutz der Menschenrechte sowie die Stärkung der Rolle der Frauen in der Gesellschaft. Geplant ist außerdem, dass Afghanistan auch weiterhin militärische wie finanzielle Hilfe aus dem Ausland erhält. Experten zeigen sich jedoch skeptisch, ob die Regierung der Nationalen Einheit wirklich effektiv und erfolgreich arbeiten wird. Was auf den ersten Blick wie eine Stabilisierung der politischen Verhältnisse wirkt, erwies sich zumindest bisher als eher fragiles Konstrukt. Denn bislang hat Ghani es nicht einmal geschafft, eine handlungs-fähige Regierung zu formen. Auch die afghanische Wirtschaft kommt kaum auf die Beine. Noch immer hängt das Land zu 90 Prozent am Tropf der internationalen Hilfe.
Wird Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen ins Chaos stürzen?
Die internationalen Truppen werden 2015 abziehen. Die Bilanz des ISAF-Einsatzes ist düster, ja geradezu er-nüchternd: Mehr als 3.400 Koalitionssoldaten kamen ums Leben, darunter 54 Soldaten der Bundeswehr. Die Anzahl der Toten auf afghanischer Seite liegt noch weit höher. Sie ist allerdings schwer zu ermitteln, da offizielle Angaben schwanken oder völlig fehlen. Allein die USA gaben für den Afghanistankrieg bis 2013 offiziell 640 Milliarden Dollar aus (Entwicklungshilfe nicht eingerechnet). Mit seiner Mission, die Taliban zu besiegen, ist der Kampfeinsatz komplett gescheitert. Nur wenige Kriegsziele wurden erreicht. Die Islamische Republik Afghanis-tan wird weiterhin vom Terror der Taliban beherrscht. Die Taliban sind heute kaum schwächer aufgestellt als vor 13 Jahren. Sie könnten das Land nach dem Abzug der Nato überrollen. Obwohl der ISAF-Einsatz die Rückkehr der Taliban verhindern sollte, haben ihre Terroraktivitäten über die Jahre hinweg stetig zugenommen. Fast täg-lich gibt es Anschläge mit Toten und Verletzten. So starben im November ca. 40 Besucher eines Volleyballtur-niers durch einen Selbstmordanschlag in der östlichen Provinz Paktika. Der Attentäter hatte sich unter die Hun-derten Besucher des Finalspiels gemischt und dann eine Bombe gezündet. Aber nicht nur der erneute Griff nach der Macht seitens der Taliban bedroht die afghanische Bevölkerung. Auch die auf allen Ebenen vorhandene Korruption und die ungebrochene Macht der Drogenbarone stellen das Land vor bisher ebenso unlösbare Prob-leme wie die von den Milliarden an Wiederaufbauhilfe gespeiste Korruption oder die unverminderte Bedrohung durch Kriminalität und politische Gewalt. Afghanistans ist darüber hinaus immer noch ein bettelarmes Land. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze.
Und selbst die Situation der Menschen- und Frauenrechte ist weiterhin als desolat zu bezeichnen. Noch immer gehen US-Angaben zufolge lediglich 40 Prozent der Mädchen auf eine Schule. Und nur 13 Prozent beenden die Schule. Lediglich 50 Prozent der 416 Distrikte haben überhaupt eine Haupt- oder Realschule für Mädchen, nur 20 Prozent ein Mädchen-Gymnasium.
Wird 2015 zum Schicksalsjahr für Afghanistan?
Bereits auf dem Gipfel in Wales im September 2014 hatten die Nato-Länder Afghanistan weitere Unterstützung zugesagt und im Gegenzug Reformen gefordert. Auch der Bundestag hat eine Fortsetzung der Entwicklungshilfe für Afghanistan für die Zeit nach dem Ende der ISAF-Mission beschlossen. Um den Terror-Export einzudäm-men und die politische Stabilität im Land zu sichern, hat die neue afghanische Regierung im Herbst das bilaterale Sicherheitsabkommen (BSA) mit den USA und das Truppenstatut-Abkommen mit der Nato unterschrieben. Ab Januar 2015 werden noch etwa 12.000 Soldaten im Land stationiert sein. Von den deutschen Streitkräften werden 850 Soldaten in Afghanistan verbleiben. Vorläufig bis mindestens 2016. Die Aufgaben der Truppen ändern sich: Das Mandat für die neue Mission „Resolute Support“ (Entschlossene Unterstützung) sieht keine Kampfeinsätze mehr vor. Afghanische Sicherheitskräfte sollen nur noch trainiert, beraten und logistisch unter-stützt werden. Militärische Gewalt sollen die ausländischen Truppen grundsätzlich nur noch zum Selbstschutz anwenden. Kritiker hingegen bezweifeln den Sinn und Zweck dieser Militärmission. Ihrer Ansicht nach werden auch die Sicherheitskräfte nicht in der Lage sein, Aufständischen oder Dschihadisten wirksam Widerstand zu leisten, solange Afghanistan nicht wirtschaftlich und politisch auf stabilen Beinen steht.
Das Sicherheitsabkommen ist darüber hinaus allein schon deswegen kritisch zu beurteilen, weil es u.a. eine Fortsetzung der Straffreiheit für NATO-Soldaten im Land vorsieht. Es garantiert ausländischen Soldaten strafrechtli-che Immunität und erlaubt ihnen, in „begründeten Fällen“ auf eigene Faust Hausdurchsuchungen durchzufüh-ren. Die afghanische Regierung könnte schnell unter Druck geraten, wenn Verhaftungen, Drohnenangriffe und die Verschleppung von Terrorverdächtigen weiterhin einen legalen Status genießen. Hamid Karzai hatte sich deswegen bis zum Schluss entschieden geweigert, das Abkommen zu unterzeichnen. Aschraf Ghani erhofft sich von der Fortsetzung der Stationierung ausländischer Truppen Unterstützung im Kampf gegen die aufständischen Taliban. Aber allein schon aufgrund der fatalen Entwicklung der letzten Jahre muss bezweifelt werden, ob diese Strategie zum Erfolg führt. Wahrscheinlich wird man langfristig um Verhandlungen mit den Taliban nicht her-umkommen. Was wird die Zukunft bringen für Afghanistan? Kann das Land seine Konflikte und Probleme bewältigen? Oder droht der jungen afghanischen Demokratie im Schatten der Taliban der Zusammenbruch? Dass das Land erneut zur Drehscheibe des internationalen Terrorismus und Dschihadismus wird, ist hingegen zweifelhaft. Dieser hat mit der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) längst anderswo aufgeschlagen.