Deutschland ist ein gespaltenes Land. Die letzten Monate haben das streckenweise eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Zankapfel in der langsam wieder an Fahrt gewinnende Debatte, ist die Einwanderungspolitik und das Verhältnis zu den Muslimen in Deutschland.
Dabei kann man bisher noch gar nicht von einer wirklichen Einwanderungspolitik in Deutschland sprechen. Im Gegenteil, noch immer kann man sich als Beobachter nicht des Eindrucks erwehren, dass ein beträchtlicher Teil der Politiker den Vorstellungen aus der Nachkriegszeit treu geblieben sind und darauf beharren wollen, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist. Die Illusion eines ethnisch homogenen Deutschland mag auf den ersten Blick Sicherheit ausstrahlen und gerade auf die Schichten in unserer Gesellschaft attraktiv wirken, die sich seit Langem abgehängt fühlen. Demokratie-Skepsis, das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber den politischen Eliten, gepaart mit einem sehnlichen Wunsch nach einer starken nationalen Identität, kennzeichneten die Beweggründe vieler Menschen, die sich in den vergangenen Monaten der verschiedenen deutschlandweit entstandenen Pegida-Bewegungen angeschlossen haben. Die Antwort der Kritiker auf dieses deutliche Phänomen einer Spaltung unserer Gesellschaft waren hingegen oftmals nur moralische und kurzweilige Appelle. Effektiv ist so ein Umgang sicherlich zu keinem Zeitpunkt gewesen.
Der Rat für Migration, ein bundesweiter Zusammenschluss verschiedener Wissenschaftler, welche die Frage von Migration und Integration seit vielen Jahren begleiten, kritisierte daher im Januar auf einer Pressekonferenz die aus ihrer Sicht überholte Integrations- und Einwanderungspolitik in Deutschland. Das Bewusstsein, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, sei zwar in fast allen politischen Parteien verankert, aber noch nicht in der Gesellschaft angekommen. Die Wissenschaftler fordern deshalb die Einrichtung einer »Leitbild-Kommission«, mit dem Ziel ein gemeinsames »Wir« zu erarbeiten.
Mehrheit der Menschen sieht deutsche Identität positiv aber ausgrenzend
Bezug nehmen die Wissenschaftler dabei auf eine Studie des »Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung« der Humboldt-Universität zu Berlin, die Ende des vergangenen Jahres veröffentlicht wurde. Ein Blick in die Studie lohnt sich. Die Mehrheit der hier in Deutschland lebenden Menschen sehen die deutsche Identität positiv, aber auch immer noch sehr exklusiv. So werden im Denken der Menschen Muslime immer noch aus dem nationalen Narrativ ausgeschlossen.
Eine deutliche Mehrheit von 85 Prozent der Bevölkerung bekennt sich zur Aussage »Ich liebe Deutschland« und hat damit ein positives Selbstbild.Ausgangspunkt hierbei ist die vor gut 25 Jahren erfolgte Wiedervereinigung. So stellen 49 Prozent der Befragten dieses Ereignis als das Ereignis dar, dass Deutschland heute am besten beschreibt. Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, werden hingegen immer weniger prägend für das Selbstbild wahrgenommen: Nur 16 Prozent der Befragten nannten Ereignisse des Zweiten Weltkrieges als für sie für das Selbstbild prägend.
Dieses Ergebnis ist sicherlich positiv zu bewerten, da es gerade die Thesen jener politischen Scharfmacher in das Reich der Fabeln verweist, die behaupten, Deutschland könne nicht positiv mit seiner Identität umgehen und könne sich nur in einer negativen Identität wahrnehmen. Erfreulich ist weiterhin die große Verbundenheit der Deutschen mit Migrationshintergrund mit Deutschland. So gaben aus diesem Kreis 81 Prozent an, Deutschland zu lieben und 77 Prozent fühlten sich deutsch. Jedem zweiten Deutschen mit Migrationshintergrund ist es wichtig, als deutsch gesehen zu werden. Diese Zahlen zeigen ganz deutlich, dass sich die nationalen Identitätsbezüge in den vergangenen Jahrzehnte schrittweise verändert haben und nicht mehr ausschließlich völkisch geprägt sind. Trotzdem ist das offene Deutschsein auf der anderen Seite auch ausgrenzend.
38 Prozent der Bevölkerung sind laut dieser Studie der Meinung, wer ein Kopftuch trage, könne nicht deutsch sein. Muslimisch und deutsch werden immer noch zu einem erheblichen Teil als Gegenkategorien wahrgenommen. Mehr als ein Viertel der Befragten (27 Prozent) denken, dass Muslime aggressiver seien, als sie selbst, ein Drittel (30 Prozent) glauben nicht, dass Muslime genauso bildungsorientiert sind wie sie selber.
Allgemein wird deutlich, dass die nicht-muslemische Bevölkerung in Deutschland ein ambivalentes Verhältnis zum Islam hat. Gut 67 Prozent findet zwar, dass es das gute Recht der Muslimen sei, Forderungen an die Gesellschaft zu stellen und ebenso viele Menschen sagen, man solle den Muslimen Anerkennung entgegenbringen. Trotzdem vertreten aber auch 20 Prozent der Bevölkerung die Meinung, dass wenn Muslime eine Forderung an die Gesellschaft stellen, dass ein Zeichen von Unverschämtheit sei. 17 Prozent der Befragten bewerten das sogar als ein Zeichen von Undankbarkeit. Deutlicher wird es dann aber im Bereich der politisch diskutierten Themen: 69 Prozent sind hier zwar für einen islamischen Religionsunterricht, gleichzeitig möchten 60 Prozent aber auch die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen verbieten. Beinahe die Hälfte der Deutschen (48 Prozent) finden, dass Lehrerinnen das Tragen von Kopftüchern nicht erlaubt sein sollte und 42 Prozent möchten den Bau von Moscheen einschränken.
Wertedebatte ist unumgänglich
Diese hier zu Tage tretenden pauschalen und negativen Einstellungen gegenüber Muslimen, bergen eine große Gefahr für das Miteinander in unserer Gesellschaft. Mit Appellen und das ständige Herunterbeten von Allgemeinplätzen, wie wir es in der Politik erleben, ist wenig getan. Solange nicht endlich eine ernstzunehmende Debatte über ein Leitbild für Deutschland geführt wird, wird die Auseinandersetzung um einen richtigen Umgang mit Integration und Migration immer nur eine Debatte bleiben, die entsprechend aufgeladen an den politischen Rändern unserer Gesellschaft geführt wird. Wir brauchen eine Debatte darüber, welchen gesellschaftlichen Konsens und welche geltenden Werte es in unserer Gesellschaft gibt. In einem Land, das immer vielfältiger wird, sich aber nur bedingt traut, diese Realität anzuerkennen, ist eine Wertedebatte unumgänglich. Darüber hinaus bedarf es aber mehr als nur eines Gedankenaustausches – es geht darum, sich endlich auch einmal für den Gegenüber zu interessieren.
Keine ewigen Stereotypen
Gerade in diesem Bereich haben die Medien immer noch einen großen Nachholbedarf. Immer wieder werden dort jene weit verbreitenden Stereotypen bedient, die am Ende den Menschen Munition liefern, die Probleme mit einer offenen und pluralistischen Gesellschaft haben. Wenn Medien zum Beispiel einen Bericht über Türken in Deutschland machen, dann sollten sie wissen, dass nur 25,1 Prozent der türkischen Musliminnen in Deutschland immer ein Kopftuch tragen. Das Bild einer Frau mit Kopftuch ist damit für Türken in Deutschland so repräsentativ wie eine Lederhose in einem Bericht über Deutsche.
Auf der anderen Seite erscheint es mir aber auch nachvollziehbar, dass Menschen Angst haben. Dabei muss völlig dahingestellt bleiben, ob diese Angst berechtigt ist oder nicht. Die Mehrheit der Deutschen, das steht außer Frage, sind bereit andere Kulturen und Religionen zu akzeptieren. Sie erkennen aber gleichzeitig das Konfliktpotential, das in dem Fremden liegt. Diese Ambivalenz unter einen Hut zu bringen und beide Punkte zusammenfügen zu können, das ist der Mehrheit nicht möglich. Wahrscheinlich gibt es in dieser Sache auch überhaupt keinen Königsweg und wie bei anderen Dingen im Leben auch, müssen wir diesen Widerspruch vermutlich aushalten. Es wäre daher gut, wenn sich die Gesellschaft wieder auf ihre Grundwerte besinnen würde. Staat und Religion sind bei uns getrennt und das ist auch gut so.
Allerdings muss immer wieder auch unmissverständlich klar gemacht werden, dass religiöse Praktiken und Überzeugungen ihren unmissverständlichen Platz in unserer Gesellschaft haben. Gleichzeitig können wir einen Wert wiederentdecken, der auch in den westlich geprägten Ländern unterzugehen droht, die Kritikfähigkeit. Gehen wir wieder wechselseitig kritisch mit unseren Meinungen und Positionen um. Haben wir auch wieder den Mut uns selber in Frage zu stellen. Nur aus der Kritiktoleranz wächst auch die Fähigkeit, sich zu verändern. Wir haben in den letzten Jahrzehnten fast verlernt, uns selber und die Gesellschaft in Frage zu stellen und uns damit zu entwickeln. Umso mehr macht uns nun Angst, wenn Menschen aus manchen islamisch geprägten Gesellschaften kommen und plötzlich mit Kritik nicht umgehen können, ja sich sogar gegen Kritik abschotten. Fangen wir also nicht erst bei den Anderen an, sondern beginnen wir bei uns selbst. Vergewissern wir uns selber, worin die Werte unserer Kultur liegen, bevor wir von anderen Menschen erwarten, dass sie sich bedingungslos zu den »westlichen Werten« bekennen, die in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung immer wie eine leere Worthülse wirken. Inhaltslosigkeit kann aber nicht überzeugen, sondern verunsichert auch unsere Gegenüber. Vielleicht ist gerade mit dieser Inhaltsleere auch der Vorbehalt mancher Muslime gegenüber das was wir »westliche Wertegemeinschaft« nennen zu verstehen. So gelingt es beispielsweise der CDU heute kaum noch zu definieren, was eigentlich eine konservative Grundhaltung ist. Ebenso schwer tut sich die SPD damit zu erläutern, was ihre Politik als links kennzeichnet. Es ist wirklich bedenklich, wie wenig aussagefähig in diesem Zusammenhang diejenigen sind, die mit dem Brustton der Überzeugung für sich in Anspruch nehmen, bestimmte Wertüberzeugungen hochzuhalten.
Werteerosion nicht Schuld der Muslime
Herausgefordert bleiben aber auch die Christen in unserem Land. Sie müssen sich angesichts der Debatte wieder neu ihrer religiösen Überzeugungen vergewissern. Geradezu zwingend aufgefordert sind sie, zu einer Debatte über gemeinsame Werte, Menschenrechte, Religionsfreiheit und Diskriminierung. Diese Debatte kann für die christliche Mehrheit im Land ein großer Gewinn sein, wenn sie diese auf ihre eigene Identität zurückwirft, mit der nicht wenige heute selber hadern. Die oftmals beklagte Werteerosion und der Mitgliederschwund in den Kirchen sind nicht auf die rund 4,5 Millionen Muslime in unserem Land zurückzuführen, sondern auf unser eigenes Selbstverständnis. In den ausgehenden Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts ist die Kritik des Westens an sich selbst so scharf geworden, dass man zuweilen als naiv dasteht, wenn man sich zu westlichen Werten bekennt. Wir pflegen die Skrupel gegen unsere Grundüberzeugungen oder schätzen sie sogar gering. Insbesondere gegenüber außereuropäischen Kulturen haben wir ein permanent schlechtes Gewissen. Dieses schlechte Gewissen wandelt sich nicht selten in Angst. Diese Angst steigert sich im Alltag dann auch häufig in Vorurteilen und Benachteiligungen. Für eine demokratische Gesellschaft, die sich auf christliche Traditionen beruft, ist dieser Zustand beschämend.
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch eindeutig Forderungen aus muslemisch-fundamentalistischen Kreisen zurückweisen, die behaupten für eine erfolgreiche Integration von Muslimen, müsse Deutschland Abstriche bei der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, etwa dem Recht auf freie Meinungsäußerung oder an der Gleichberechtigung der Frau, machen. Selbstverständlich ist auch jeder religiös begründeten Gewalt der Kampf anzusagen. Dabei sollte es völlig egal sein, ob sie sich gegen Nichtmuslime oder Muslime richtet. Fakt ist, es gibt viele Muslime in Deutschland, die unsere Werte teilen, die sich tagtäglich für unser Land engagieren und von denen ich mir wünschen würde, dass sie sich stärker politisch, aber auch in anderen Bereichen einbringen würden. Diesen Menschen muss aber auch klar signalisiert werden, dass sie zu uns gehören. Wenn wir dagegen immer noch Vorbehalte haben, dann kann eine Spaltung nicht überwunden werden. Wer nicht dazugehört, wird nicht bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Eine Debatte um ein gemeinsames Leitbild ist also längst überfällig.