Wie der NSU-Skandal immer wieder Vertrauen zerstört

Die Pannen und Schlampereien bei der Aufarbeitung der Mordserie, welche dem nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugerechnet werden, sorgen in Deutschland weiterhin für Furore. Obwohl der Nachrichtenwert im Gegensatz zu Beginn der Aufdeckung des peinlichen Skandals immer mehr abnimmt, kommen weiterhin hochgradig dubiose Einzelheiten ans Tageslicht. Es bleibt nach wie vor offen, in wessen Auftrag die Lynchmorde ausgeführt wurden. Das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe hüllt sich immer noch in Schweigen.

Untersuchungsausschüsse als Mittel zur Aufklärung

Die meisten Bundesländer, in denen die sogenannten „NSU-Morde“ kaltblütig und professionell vollstreckt wurden, haben Untersuchungsausschüsse eingerichtet oder planen dies zumindest für die Zukunft. Nur in Baden-Württemberg lehnt die Mehrheit des Landtags, obwohl in Heilbronn eine Staatsbeamtin und dazu noch eine Polizistin erschossen worden ist, einen solchen Ausschuss ab. Es scheint so, als ob sonderbare Interessen, die eine ganz andere, tiefe Dimension besitzen, überwiegen. Daher sehen einige verantwortliche Politiker und Amtsträger im Südwesten des Landes den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter als „Zufallstat“ und die Beamtin selbst als „Zufallsopfer“ an. Ermittler, die bereit sind, Rede und Antwort zu stehen, bekommen keine Erlaubnis Aussagen zu tätigen. Dagegen hatte der Untersuchungsausschuss des Bundestags bereits im August 2013 einen Abschlussbericht vorgelegt. Da immer mehr Pannen, Schlampereien und Versagen ans Tageslicht gelangen, fordern Politiker der Grünen, u.a. der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele, nun sogar einen weiteren Untersuchungsausschuss des Bundestags für das Jahr 2015.

Thüringen schafft V-Mann-System ab

Das Land Thüringen geht am weitesten. Dort haben sich SPD, Grüne und Linkspartei darauf geeinigt, den Verfassungsschutz dahingehend zu reformieren, dass dort keine internen V-Leute mehr eingesetzt werden dürfen. Zudem sollen auch keine neuen V-Leute mehr angeworben werden. Eine Ausnahme solle es bei schwerwiegenden Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen geben.

NRW wird anti-muslimisch motivierte Straftaten gesondert erfassen und richtet Untersuchungsausschuss ein

In Kürze werde auch im nordrhein-westfälischen Landtag ein NSU-Untersuchungsausschuss eingerichtet. Der Vorstoß findet parteiübergreifende Unterstützung. Schon im Sommer hatten sich die Fraktionen im Düsseldorfer Parlament – allerdings ohne die Zustimmung der CDU – dazu entschlossen, anti-muslimisch motivierte Straftaten unter dem Themenfeld der Hasskriminalität zu erfassen. Judenhass sowie Feindlichkeit gegen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften werden bereits als eigene Kategorien in der Kriminalitätsstatistik festgehalten. NRW ist das erste Bundesland, das bei dieser Frage Lehren aus dem NSU-Untersuchungsauschuss des Bundestags zieht. Der Ausschuss zur Aufklärung der Verbrechen des rechtsterroristischen NSU hatte bei dem derzeitigen Definitionssystem der Strafverfolgunsbehörden, der sogenannten PMK (politisch motivierte Kriminalität), “große Schwächen” ermittelt und eine “grundlegende Überarbeitung” gefordert.

Politisch motivierte Taten gegenüber Muslimen wurden bisher fast ausschließlich unter dem Bereich “Fremdenfeindlichkeit” subsumiert. Dies war irreführend und verschleierte, dass es in Deutschland neben Antisemitismus und Homophobie auch und besonders Islam- und Muslimfeindlichkeit gibt.

„Laut polizeilicher Kriminalstatistik wird in Nordrhein-Westfalen an jedem zweiten Tag ein Mensch Opfer einer politisch rechts motivierten Gewalttat”, schreibt das Nachrichten- und Debattenportal “Migazin” in einem Beitrag. Die Dunkelziffer liege um etwa ein Drittel höher. Wie viele dieser Straftaten antisemitisch oder rassistisch motiviert seien, könne aus der Statistik erkannt werden; nicht jedoch wie viele einen antimuslimischen Hintergrund aufwiesen.

Finanzielle Förderung des NSU

Unterdessen wurde erst vor wenigen Wochen bekannt, dass der Thüringer Verfassungsschutz kurz nach Abtauchen der mutmaßlichen NSU-Terroristen Geld an diese in den Untergrund geschickt habe. Das sagte der frühere Verfassungsschutz-V-Mann und damalige Kopf des rechtsextremen „Thüringer Heimatschutzes“, Tino Brandt, als Zeuge im Münchner NSU-Prozess. Das Geld habe er selber in Empfang genommen und weitergeleitet. Brandt hat somit eine Verbindung zwischen einem inländischen Nachrichtendienst und der NSU öffentlich gemacht.

„Die Drei Affen“: Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt

Überdies soll bei mindestens einem Mord, und zwar in Kassel, ein V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes am Ort des Geschehens gewesen, aber – was für ein Zufall – nichts von dem Mord in dem Internetcafé, wo er gechattet haben soll, mitbekommen haben. Auch die geistige Fitness von verschiedenen Zeugen scheinen nicht mehr den Anforderungen zu genügen, die diese Menschen für ihre Jobs eigentlich benötigen. Denn immer mehr Personen geben im Zeugenstand zu Protokoll, dass sie sich nicht mehr erinnern und dieses oder jenes schon längst vergessen hätten.

Seltsame Todesursachen von wichtigen Zeugen

Daneben starben in den letzten Monaten zwei wichtige Zeugen auf bizarrer Art und Weise. Einer der Toten, Thomas R., war ein gut bezahlter V-Mann mit dem Codenamen „Corelli”, der im Kreis Paderborn in seiner Wohnung tot aufgefunden worden sein soll. Eine Leiche, die sich im Zeugenschutzprogramm befand, wirft naturgemäß Fragen auf. Offiziell sei der 39-Jährige aus dem Zeugenschutzprogramm wegen einer „unerkannten Diabetes” verstorben. Brisant ist der Tod zudem deshalb, weil „Corelli” dem Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) spätestens 2005 eine Daten-CD übergeben haben soll, in der auch von „NSU/NSDAP” die Rede ist. Demnach hätte der Inlandsgeheimdienst bereits vor Auffliegen der rechtsterroristischen Gruppe 2011, Hinweise auf den NSU gehabt. Eine Behördensprecherin sagte jedoch, dass die CD erst vor ein paar Tagen gefunden worden sei. Demnach müsste es sich im Archiv des Amts um eine wahre Fundgrube handeln. Wer weiß, was noch alles vergessen wurde, um es aus der Welt zu schaffen. Politiker forderten in den letzten Tagen genau aus diesem Grunde, dass “jeder Stein im BfV umgedreht werden” müsse. Das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) hat dazu einen Sonderermittler beauftragt. Es handelt sich dabei um den ehemaligen Grünen-Abgeordneten Jerzy Montag. Er soll auch die Todesursache von „Corelli” nochmal überprüfen lassen.

Wie “versteckte Diabetes” kann auch Liebeskummer tödlich sein

Ein anderer wichtiger Zeuge, Florian H., soll aufgrund von Liebeskummer in seinem Auto gefesselt verbrannt worden sein. Genau wie bei den NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gelte als Todesursache „Selbstmord“. Jedoch äußerte vor einiger Zeit der Waffenexperte Siegmund Mittag Zweifel an der Todesursache von Mundlos und Böhnhardt. So schrieb das Nachrichtenmagazin „Focus“: „Mittag verweise auf die Anzahl der im Wohnmobil gefundenen Patronenhülsen und eine dort gefundene unbekannte DNA-Spur. Außerdem gebe es Zeugenaussagen, wonach sich eine weitere Person im Wohnmobil befunden habe. Mittag lehne daher die Selbstmord-Theorie der Polizei als ‚unmöglich‘ ab“.

Florian H. soll von einer Neo-Nazi Organisation namens „NSS“ gewusst haben

Auch Florian H.‘s Tod wirft Fragen auf. Die Tat habe sich, so berichteten die „Deutsch-Türkischen-Nachrichten (DTN)“, die sich auf einen Bericht von Andreas Förster in der „Berliner-Zeitung“ beriefen, kurz vor einer Vernehmung ereignet. Florian H. sollte durch das LKA Baden-Württemberg zu den möglichen Komplizen des NSU-Trios befragt werden und hätte auch Informationen über eine weitere „NSU-ähnliche Gruppe, die sich ‚Neoschutzstaffel (NSS)’ nennt” gehabt. Florian H. „habe die Gruppe als ‚zweitradikalste Gruppe’ neben der NSU bezeichnet. Es soll auch zu einem Treffen zwischen dem NSU-Trio und der NSS gekommen sein”, berichteten die DTN. Rechtsextremismus-Experten teilten mit, dass beide Zeugen sich außer Fragen zum NSU auch zu anderen brisanten Fragen hätten äußern können. Soweit kam es aber erst gar nicht.

Immer mehr Menschen zweifeln an den offiziellen Verlautbarungen

Einige Zeitungen haben nach dem plötzlichen Tod dieser wichtigen Zeugen mit Verwunderung reagiert. Die „Süddeutsche Zeitung“ sprach von einem „Politikum”. Die „Berliner-Zeitung“ konstatierte in diesem Zusammenhang: „Statt Aufklärung gibt es immer neue Fragen”. Am drastischsten formuliere es wohl die „taz“ mit ihrer Überschrift: „Land im Ausnahmezustand. Die Nichtaufklärung der NSU-Morde zeigt, wie der ‚Tiefe Staat‘ in der Bundesrepublik funktioniert – samt seiner Wasserträger im Parlament“. In diesem Kommentar formulierten Micha Brumlik und Hajo Funke: „Tatsächlich mehren sich seit Längerem die Indizien dafür, dass sich hinter dem mörderischen und rassistischen Kriminalfall NSU eine schleichende Staatskrise verbirgt.“ Und sie gingen noch weiter: „Der deutsche NSU-Skandal macht im Gegensatz zur NSA deutlich, wie eine solche Gefährdung der bürgerlichen Freiheiten im noch analogen Zeitalter vor sich geht: mit Leichen, ängstlichen Volksvertretern sowie verselbstständigten Staatsschutzbehörden jenseits jeder politischen Kontrolle; vor allem aber mit einer Bundesregierung, die zwar immer wieder beteuert, den Inlandsgeheimdienst ‚Verfassungsschutz‘ reformieren zu wollen, diesen Ankündigungen jedoch keinerlei Taten folgen lässt. […]

Die nicht anders als kriminell zu bezeichnende Energie aber, mit der die Sicherheitsexekutive und ihre parlamentarischen Wasserträger die Aufklärung des NSU-Skandals verhindern wollen, gefährdet die bundesrepublikanische Verfassung, unterhöhlt das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und schafft eine Sphäre jenseits des Rechtsstaates. Beim Nato-Partnerland Türkei ist treffend von einem ‚tiefen Staat‘ die Rede, einer jenseits der oberflächlich funktionierenden modernen Verwaltung wirkenden Koalition aus Militär, Geheimdienst und Polizei.

Die deutsche Situation stellt sich noch dramatischer dar, führen doch hier nicht nur Dienste und Behörden ein politisch unkontrolliertes Eigenleben, sondern die gewählten demokratischen Institutionen selbst schirmen dieses Eigenleben vor der Öffentlichkeit ab.

Es war der nationalsozialistische Staatstheoretiker Carl Schmitt, der feststellte: ‚Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.‘ Der NSU-Skandal, dieser noch nicht deutlich genug als Ausnahmezustand erkannte Fall von bewusstem und gewolltem Staatsversagen, beweist, dass Teile der Institutionen aktiv daran beteiligt sind, an die Stelle des demokratischen Souveräns die Souveränität vermeintlicher Staatsschützer zu setzen. Die DDR, die freilich nicht über die Camouflage einer liberalen Alltagskultur verfügte, folgte derselben Logik.“

Vertrauen in den Rechtsstaat hat höchste Priorität

Wenn die Situation wirklich so drastische Ausmaße erlangt hat, wie Brumlik und Funke sagen, dann müssen wir uns Sorgen um unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung machen und uns fragen, ob sich Teile der Repräsentanten und Bewahrer unsere wichtigsten und wertvollsten Schätze, nämlich unserer Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, einwandfrei und gewissenhaft verhalten (haben).

„Verdacht gezielter Sabotage“ muss ausgeräumt werden

Für einen derartigen Skandal, der NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags spricht nicht nur von „Versagen“, sondern vom „Verdacht gezielter Sabotage“, müssten schon sehr viele „Zahnräder“ ineinander gegriffen haben. Daher wird es wird nicht einfach, das verloren gegangene Vertrauen in Teilen einiger Behörden, der Politik und Justiz wiederherzustellen. Dies aber ist nötig. Genauso nötig wie die vollständige und bedingungslose Aufklärung des NSU-Komplexes. Bundeskanzlerin Merkel hatte das den Hinterbliebenen der Opfer höchstpersönlich zugesichert. Hoffentlich bleibt es nicht nur bei einem Versprechen. Hoffentlich wird dieser Sumpf bald trockengelegt. Und hoffentlich werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen.

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Ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”.

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