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Eine neue Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sieht Deutschland direkt hinter den Vereinigten Staaten von Amerika als das zweitbeliebteste Einwanderungsland der Welt. Damit liegen sogar klassische Einwanderungsländer wie Kanada und Australien und Länder mit langer Migrationserfahrung wie Großbritannien, Spanien und Frankreich hinter der Bundesrepublik.
Das statistische Bundesamt teilte mit, dass etwa 16 Millionen Menschen in Deutschland (20 Prozent der Bevölkerung) ausländische Wurzeln besitzen. Außerdem: Im Jahr 2013 zogen ca. 1,2 Millionen Menschen nach Deutschland. Das war im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme um etwa 13 Prozent. Hauptsächlich wanderten Südeuropäer (Griechen, Italiener, Spanier, Portugiesen), die von der wirtschaftlichen Stagnation ihrer Länder betroffen waren, in die Bundesrepublik ein. Über 700 000 Menschen kamen aus der Europäischen Union. Fast 200 000 davon aus dem Nachbarland Polen. Nur noch 20 000 Personen stammten aus sogenannten Drittstaaten. Demgegenüber verließen im Jahr 2013 knapp 800 000 Menschen, davon etwa 650 000 mit ausländischer Staatsangehörigkeit und 150 000 Deutsche, die Bundesrepublik.
Deutschland: Vom Integrationsland zum Einwanderungsland?
Es hat zwar etwas länger gedauert, die nackten Zahlen zur demografischen Entwicklung zu verstehen und die gesellschaftlichen Realitäten zu akzeptieren, aber die Einsicht kam. Besser spät als nie. Was emeritierte Migrationsforscher und Bevölkerungswissenschaftler schon seit Jahrzehnten sagen, ist nun anscheinend – mit etwas Verzögerung – in der Politik und sogar beim Staatsoberhaupt angekommen. Vielleicht auch bei den Unionsparteien, die Deutschland hartnäckig immer noch als „Integrationsland” bezeichnen?
Gauck spricht sich für die Einwanderung aus: Beide Seiten sind gefordert
Bundespräsident Joachim Gauck sprach anlässlich einer Einbürgerungsfeier zum 65-jährigen Bestehen des Grundgesetzes über Einwanderung und Teilhabe. Dabei äußerte Gauck wörtlich: „Unser Land braucht Einwanderung“ und „Wir verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptieren“.
Trotzdem warf Gauck der Mehrheitsbevölkerung Mängel bei der Akzeptanz von Einwanderern vor:„Eine junge Frau aus einer vietnamesischen Familie wird in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien ohne weiteres als Amerikanerin oder Britin akzeptiert. In Deutschland hingegen wird sie mit einiger Wahrscheinlichkeit befragt, woher sie denn ‚eigentlich’ stamme. Nun ist Neugier nicht verboten. Aber es sollte klar sein, dass solche Fragen auch signalisieren können: ‚Du gehörst nicht wirklich zu uns’“, sagte der Bundespräsident. Beide Seiten, sowohl Einwanderer als auch die Mehrheitsgesellschaft, seien gefordert. Offen zu sein, sei anstrengend, betonte das Staatsoberhaupt:„Die offene Gesellschaft verlangt uns allen einiges ab: Jenen, die ankommen, und jenen, die sich öffnen müssen für Hinzukommende“.
Deutsche sind selbst Migranten
Darüber hinaus verdeutlichte Gauck, dass gerade die Deutschen in der Vergangenheit selbst „Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge“ waren, die in Scharen Deutschland verließen und in anderen Ländern der Welt eine neue Heimat fanden. Dieser Einwand war wohl auch deshalb so wichtig, weil es das kollektive Gedächtnis der Einwanderungsgesellschaft anspricht und vor Augen führt, dass Migration und Deutschsein keine Gegenpole darstellen.
„Bringschuld“ und Probleme
Gauck sprach aber auch über die vermeintliche „Bringschuld“ der Neudeutschen hinsichtlich ihrer gleichberechtigten Teilhabe in der Gesellschaft – und ließ sich dabei den Griff in die Ressentimentkiste nicht nehmen. Er sprach über vermeintliche Probleme der Einwanderungsgesellschaft und nannte in dem Zusammenhang die „Ghettobildung und Jugendkriminalität, patriarchalische Weltbilder und Homophobie, Sozialhilfekarrieren, Missachtung von Frauenrechten, Antisemitismus und Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft durch Religion […]“.
Was ist aber, wenn die so bezeichnete „Ghettobildung” nicht an den Einwanderern liegt, sondern daran, dass Teile der Mehrheitsgesellschaft selbst ihre „Parallelgesellschaften” errichten und mit allen Mitteln große Teile der Einwanderercommunity daran hindern, ein Teil dieses Landes zu werden? Was ist, wenn in bestimmten Ministerien, Behördenapparaten oder anderen öffentlich-rechtlichen Arbeitgebern nicht auf die Leistung, sondern auf das Parteibuch oder die Abstammung geachtet wird? Was passiert, wenn sich Teile der Mehrheitsgesellschaft in ihren eigenen Wohnquartieren einnisten und diese mit meterhohen Mauern gegen Einwanderer und andere gesellschaftliche (Rand-)Gruppen abschirmen? Was ist, wenn „Jugendkriminalität“ nichts mit der Herkunft zu tun hat, sondern vielmehr von der sozialen Milieuzugehörigkeit determiniert ist?
Fragen an die Einwanderungsgesellschaft
Wie ist es, wenn ein Kopftuch, der Name einer Person, das Aussehen, die politische oder ideologische Einstellung oder private Ansichten die von Gauck genannte „Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft“ bewirken? Vor allem: Wie ist es mit dieser „Bringschuld“ zu erklären, wenn man belegbare Ausgrenzungserfahrungen macht, nur weil man keiner bestimmten Minderheit – beispielsweise aus der Türkei – angehört und sich gegen das Land der Großeltern aufstacheln lässt?
Einwanderung als Lernprozess
Einige sogenannte „Altdeutsche“, auch Gauck, müssen wohl noch weiter lernen. Weiter lernen, die Vielfalt wie in anderen Einwanderungsländern – etwa Australien, Großbritannien, USA, Kanada etc. – wirklich zu akzeptieren und nicht als potenzielle Gefahr zu sehen. Aber ein kleiner Teil Deutschlands ist leider auch in diesem Bereich noch immer eine „verspätete Nation“, die wie so oft das Nachsehen hat und sich im Nachhinein wundert, dass die Herzen der Einwanderer nicht nur für das eigene Land schlägt, sondern auch für das Land, aus dem die Großeltern und mittlerweile schon die Urgroßeltern stammen.
Was nicht wenige Urdeutsche nicht wissen: Dies ist der Normalzustand einer Einwanderungsgesellschaft! Dort gibt es nicht nur ein „Entweder-Oder-Prinzip“, sondern es herrscht ein „sowohl-als auch“. Es ist schwierig, ein zweites Einwanderungsland, zu finden, das so fahrlässig und semiprofessionell mit seinen Einwanderern umgeht. Selbst Frankreich, Österreich, Schweiz, Belgien oder Holland, die in den letzten Jahren verstärkte kritische Debatten um Einwanderung geführt haben, nutzen ihre Potenziale effizienter.
Trotz alledem gebührt für diesen Satz von Joachim Gauck Respekt: „Hören wir auf, von ‚wir’ und ‚denen’ zu reden. Es gibt ein neues deutsches ‚Wir‘, die Einheit der Verschiedenen. Und dazu gehören Sie genauso selbstverständlich wie ich.” Genau das ist das neue Deutschland. Da haben wohl einige am Ende doch von Altbundespräsident Christian Wulff gelernt.