„Kannibalismus im Präsidentenpalast“; „Janukowytsch setzt süßen Rehpinscherwelpen auf dicht befahrener Autobahn aus“; „Ukrainische Regierung steckt hinter Schumacher-Unfall“: Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur eine dieser Geschichten zu abstrus wäre, um nicht auch noch in die eine oder andere Publikation der deutschen Mainstreampresse Eingang zu finden.
Die Einseitigkeit, Überheblichkeit und der Verbalradikalismus, die, wenn es um die Berichterstattung über die seit einem Monat die Ukraine heimsuchenden Unruhen in einigen Großstädten des Landes geht, an den Tag gelegt wird, lassen sich nicht nur mit dem Hurra-Patriotismus erklären, der den auf Politiker umgestiegenen Boxer Wladimir Klitschko zu einem „von uns“ macht, hinter dem die Nation nun zu stehen hätte wie hinter der Fußballnationalmannschaft.
Wenn es um die derzeitige Situation in der Ukraine geht, fühlt man sich bei der Lektüre von Berichten und Kommentaren in der „Qualitätspresse“, beispielsweise in der Springer(stiefel)presse, an den Tonfall erinnert, der vor genau 100 Jahren am Vorabend des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs Gang und Gäbe war – wo ebenfalls vor allem Russland und mit ihm verbündete Nationen als Feindbilder aufgebaut wurden. Das einzig Beruhigende dabei ist, dass die westeuropäischen Nationen heute demografisch und mental kaum noch in der Lage wären, die medial gezüchtete Kreuzzugsmentalität in eine kollektive Aktion umzumünzen. Es gibt einfach nicht mehr genug Nachwuchs, den man verheizen könnte.
Koloniales Gehabe der EU
Und trotzdem befremdet es, wie die EU sich derzeit in einem Land als Kolonialmacht aufspielt, das bereits im 20. Jahrhundert vom wilhelminischen Deutschland nach Belieben zur Manövrierbasis für das Unterfangen umfunktioniert worden war, den eigenen politischen Machtbereich nach Osten hin auszudehnen – nötigenfalls auf Kosten der dortigen Bevölkerung.
Glaubt man der fast einhelligen Darstellung in hiesigen Medien, wird die Ukraine in Gestalt von Präsident Wiktor Janukowytsch vom so ziemlich bösartigsten und blutrünstigsten Despoten seit Kaiser Bokassa diktatorisch regiert und das unterdrückte Volk würde sich nichts sehnlicher wünschen als endlich Teil der EU werden zu können und von Brüssel aus die Staubsauger mit der richtigen Saugstärke und die am besten zum Land passenden Beleuchtungskörper für die eigenen vier Wände verpasst zu bekommen.
Der einzig noch bösere Despot Vladimir Putin, der, wie wir wissen, arme unschuldige Mägdelein für ein harmlos dahingeträllertes „Gebet“ ebenso ins Gefängnis werfen lässt wie brave, ehrbare Geschäftsleute, die sich nur deshalb ab und an in mafiösen Strukturen bewegt hatten, weil sie dort nach Schachpartnern suchten, soll demnach versuchen, durch ganz fiese Erpressung mit dem Erdgashahn die Ukraine daran zu hindern, den Menschen im Lande ihren Traum vom Brüsseler Paradies zu erfüllen.
Diese Darstellung hat – neben der Tatsache, dass die meisten Medienkommentatoren, Politiker und auch Medienkonsumenten daran glauben wollen – auch noch das kurze Gedächtnis der Letzteren für sich. Blickt man zurück, wurde der „Despot“ Janukowytsch 2002 Premierminister. In den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit wuchs das BIP um mehr als 13{29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040}. Diese vorzeigbare Bilanz machte es dem amtsmüden Langzeitpräsidenten Leonid Kutschma leicht, 2004 Janukowytsch als Nachfolger vorzuschlagen.
Ukraine-Opposition hatte sich schon einmal als völlig unfähig erwiesen
Nach einem knappen Wahlergebnis in der Stichwahl gegen den massiv aus dem Westen protegierten und finanzierten Wiktor Juschtschenko und dem angeblichen Verdacht auf Manipulationen kam es zu Unruhen, die am Ende eine Wiederholung der Stichwahl erforderlich machen. Auf Grund seiner Mehrheit in der Westukraine und in Teilen des Südens des Landes konnte Juschtschenko, der ein Bündnis mit der Energiemagnatin Julija Tymoschenko eingegangen war, landesweit eine deutliche Mehrheit erzielen.
Dieser Machtwechsel wurde im Westen als „Orangene Revolution“ verklärt, Juschtschenko wurde Präsident, Tymoschenko Premierministerin und alle lebten glücklich und zufrieden bis… na ja, bis sich die beiden Heldengestalten über die Machtverteilung uneinig wurden, sich wechselseitig miteinander überwarfen und gegeneinander so lange Obstruktion übten, bis der Bevölkerung der Kragen platzte und dem viel geschmähten Bösewicht Janukowitsch ein triumphales Comeback gelang – und er erst 2010 die Präsidentenwahl gewann und mit seiner Partei 2012 eine Mehrheit für ein Bündnis mit Kommunisten und Unabhängigen erlangen konnte. Seither regiert der „Despot“ wieder – und 2015 wäre die nächste Gelegenheit, ihn wieder abzuwählen. So lange wollen einige jedoch offenbar nicht warten.
Was hat es nun aber mit dem ominösen Assoziierungsabkommen auf sich, das angeblich so vorteilhaft für die Ukraine gewesen sein soll?
Nun, Fakt ist, dass das westliche Dreamteam Juschtschenko/Timoschenko zwischen 2005 und 2010 keines geschlossen hatten – obwohl die politischen Machtverhältnisse es ohne weiteres erlaubt hätten. Der ach so böse „Despot“ Janukowitsch hatte hingegen ein solches weitgehend unterzeichnungsreif gemacht, bis die EU es erst mal für die Dauer eines Jahres auf Eis legte. Ende 2013 sollte es dann doch in Vilnius unterfertigt werden. Allerdings wäre die Ukraine für den Fall der Unterzeichnung verpflichtet gewesen, im Gegenzug zum Beitritt zur Freihandelszone mit der EU gleichlautende Verträge mit der Russischen Föderation aufzulösen. Das Handelsvolumen zwischen der Ukraine und Russland beträgt jedoch jährlich 10 bis 12 Mrd. Euro.
EU zieht Kompensationszusage zurück
Janukowitsch hat nun für den Fall, dass ein solcher Schritt erforderlich würde, eine entsprechende finanzielle Kompensation verlangt. Die EU soll angeblich zuerst mündlich eine solche zugesagt haben, angesichts der wirtschaftlich wenig rosigen Situation in der EU selbst soll diese Kiew nur noch ein paar hundert Millionen angeboten haben – und bezüglich des Rests auf Kredite des IWF verwiesen. Dieser hätte im Gegenzug für Kredite aber einen Abbau öffentlicher Hilfsleistungen wie Heizkostenzuschüssen von Kiew verlangt. Kurz vor dem harten Winter war Janukowytsch dazu offenbar nicht bereit und hat auf die Unterzeichnung des Abkommens verzichtet – wobei Russland diesem Entschluss zweifellos noch nachgeholfen hat, indem man dem Nachbarn einen Milliardenkredit und eine Verbesserung der Gaslieferbedingungen in Aussicht stellte.
Daraufhin kehrte in Westeuropa erst Schockstarre ein, wenig später kamen die ersten vorwurfsvollen Reaktionen, dann Belehrungen und Zurechtweisungen, und am Ende tauchten dann Demonstranten mit Europaflaggen und aus dem Westen eingeflogene Politikerdarsteller wie die Klitschkos und jede Menge Medien in den Großstädten auf. Der Rest ist bekannt – was weniger bekannt ist, ist dabei die Tatsache, dass zum einen nur im Westen der Ukraine eine mehrheitlich proeuropäische Stimmung vorherrscht, während der Osten und der Süden des Landes ungebrochen hinter Präsident Janukowytsch stehen.
Und was manchen bekannt ist und dennoch nur sehr selten in unseren Medien erwähnt wird, ist, dass die „politischen EU-Botschafter“ wie Klitschko innerhalb der Opposition immer mehr an Boden verlieren – zugunsten der rassistischen und neonationalsozialistischen Partei „Svoboda“, die bereits bei den Parlamentswahlen 2012 mit russophoben und fremdenfeindlichen Parolen 10{29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040} der Stimmen erlangen konnte.
Ein bisschen Nazi darf‘s schon sein?!
Daneben wittern auch noch andere, zum Teil militante, rechtsextremistische Gruppierungen Morgenluft und versuchen, das Chaos für den eigenen politischen Vorteil auszuschlachten. Ähnlich wie in Syrien besteht die Gefahr, dass eine gemäßigtere Opposition, der es nicht gelingt, die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen, aber sich gleichzeitig infolge eigener Unfähigkeit und Kompromisslosigkeit in eine ausweglose Lage hetzen lässt, am Ende von Extremisten assimiliert wird und zerfällt.
Quintessenz des Ganzen: Die Dinge liegen nicht so einfach, wie es die hiesige „Qualitätspresse“ gerne hinstellen mag. Politik in der Ukraine hat es generell nicht so an sich, ein sauberes Geschäft zu sein. Dabei ist Präsident Janukowytsch bei bestem Willen kein Unschuldslamm, aber die Protagonisten der „proeuropäischen“ Opposition sind bestenfalls „nur“ keine Helden und schlimmstenfalls – wie im Fall der „Svoboda“ – noch wesentlich unangenehmere Zeitgenossen als Janukowytsch.
Im schlimmsten Fall – den die politischen Akteure mit Bedacht nicht gerne laut ansprechen – wäre eine Teilung der Ukraine der bestmögliche Weg, um die Situation möglichst unblutig einer Klärung zuzuführen.
Die bessere Lösung wäre hingegen, Russland einen Weg zu eröffnen, um vollwertiger und gleichberechtigter Partner in Europa zu werden. Das würde natürlich voraussetzen, dass es gelingt, zwischen den USA und Russland endlich nach den Jahrzehnten des Kalten Krieges wechselseitiges Vertrauen zu bilden, und dass Brüssel seine Großeuropäischen Reichsambitionen ad acta legt. Dass die Brüsseler Eliten dies von sich aus machen würden, erscheint wenig wahrscheinlich. Insofern könnten wir alle auch von hier aus einen Teil beitragen, indem wir den Scharfmachern bei den bevorstehenden Europawahlen einen Schuss vor den Bug verpassen.
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