Das Thema Inklusion ist ein heißes Eisen. Die Diskussion darüber ist nicht gerade eine ideologiefreie Zone – um es einmal vorsichtig auszudrücken. Das Wort stammt aus dem Lateinischen und bedeutet Einschluss. Im pädagogischen, bzw. gesellschaftspolitischen Bereich ist das Wort in aller Munde und beinhaltet eine Forderung: Dass es nämlich keine Grenzen mehr für bestimmte gesellschaftliche Gruppen geben dürfe, die wegen bestimmter Merkmale von einzelnen Bereichen ausgeschlossen werden. Grundsätzlich erscheint der Gedanke überzeugend. Wie alle Forderungen wird er jedoch dann problematisch, wo er ideologisiert wird. Denn so wie einerseits eine Barrierefreiheit in vielen Zusammenhängen als wünschenswert erscheint, so wird es doch gleichzeitig Bereiche geben, wo ein völliger Einschluss nicht möglich oder wünschenswert ist. Nicht möglich, weil nicht jeder alles kann – meine Inklusion etwa in den Leistungssportbereich würde schlicht an meinen Fähigkeiten scheitern. Nicht wünschenswert, wenn eine temporäre Exklusion zur Selbstfindung notwendig ist. Dass etwa in einem Frauenhaus die Präsenz von Männern nicht so günstig erscheint, dürfte einleuchten. Wo es aber Ausnahmen gibt, die schon auf den ersten Blick plausibel erscheinen, muss eine offene gesellschaftliche Debatte darüber einsetzen, was man unter Inklusion versteht, wo man sie für sinnvoll, notwendig oder schädlich hält. Wie in vielen Bereichen üblich tendieren jedoch Befürworter und Ablehner zwischen zwei unversöhnlichen Polen.
Einen Pol hatte einst ich in der politischen Debatte in der Vergangenheit selbst mit gebildet. Als Öffentlichkeitsarbeiter der Rechten schoss ich in der Vergangenheit aus allen Rohren gegen den neuen Trend in der Pädagogik. Das zentrale Argument: Die Befürworter der Inklusion würden den Einheitsmenschen schaffen wollen, weil die unterschiedlichsten Menschen in ein System, gezwungen würden. Eine Hierarchie sei somit aufgehoben. Es gebe folgerichtig kein Gut, kein Schlecht. Keine Elite. Eine Gruppe richte sich immer nach dem schwächsten Glied. Und wenn man etwa Behinderte und Nichtbehinderte zusammen unterrichte, müsse sich dies am Ende auf die Leistungsfähigkeit der Elite negativ auswirken. Das Gegenmodell war die Exklusion in jeder Form. So wie „normale“ und „behinderte“ Menschen getrennt werden müssten, so seien auch etwa Deutsche und Ausländer im Unterricht zu separieren. Umso interessanter erschien mir der Spiegel-Beitrag „Alle sind überfordert – Integration behinderter Kinder.“ Darin wird die Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit geschildert: Theoretisch, so die Kernaussage des Beitrages, würden alle die Inklusion gut finden, praktisch seien die Beteiligten damit jedoch überfordert. Das Dilemma dieses Programms scheint damit in einem Satz gut umrissen zu sein. Bemerkenswert ist, dass beide Pole von sich behaupten, dass sie Verteidiger der Heterogenität seien. Sowohl die Vertreter der Exklusion wie der Inklusion postulieren: Die gesellschaftliche Heterogenität sei eine Wirklichkeit, die man anerkennen müsse. Die einen leiten daraus aber die Trennung, die anderen die Forderung nach einer Zusammenführung ab. Und beide behaupten vom jeweils anderen, dass sie der Homogenisierung Vorschub leisten würden. So ist es mit der kuriosen Einseitigkeit von Standpunkten.
Wie ist es zur Inklusion gekommen?
Das Abgehen von einem festen Standpunkt erscheint also geradezu notwendig, um neue Perspektiven zu eröffnen und gleichzeitig neue Fragen zu stellen. Vor allem aber muss der Standpunkt des jeweils anderen verstanden werden. Inklusion, das muss man wohl ganz nüchtern feststellen, ist eine Antwort auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen, das ist mir mehr als deutlich – ob es sich um die richtige handelt, sei dahingestellt. Der Ansatz ist eine Antwort auf eine kulturelle Vorstellung vor den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, in der die Sehnsucht nach Homogenität das Denken bestimmte. Der Begriff der Volksgemeinschaft in der einen deutschen Diktatur steht dafür ebenso wie die Einheitsträume im Arbeiter- und Bauernstaat in der extremsten Ausformung von Exklusion. Im totalitären Staat gehört nur der dazu, der dem ideologischen Schema entspricht. Diese Haltung schließlich ist jedoch nicht nur auf totalitäre Systeme beschränkt, sondern kann auch Bestandteil eines formal demokratischen Systems sein. Außenseiter oder Randgruppen wurden noch in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft gemobbt und ausgegrenzt. Das galt gleichermaßen für Fremde, Menschen mit anderen Lebensauffassungen oder Anlagen. Behinderte etwa galten als Schande für eine fixe Norm des Bürgertums und wurden gleichsam weggeschlossen. Angesichts dieser extremen Haltung erscheint die Inklusion als ebenso unnachgiebiges Modell nachvollziehbar, wenn man Kulturgeschichte immer als Prozess von Pendelschlägen begreift. Wer einmal die Wutreaktionen der Studenten Ende der 60er-Jahre nachvollziehen möchte, sollte sich das Filmepos „Heimat 3“ von Edgar Reitz zu Gemüte führen. Reitz modelliert eine imaginäre kleine ländliche Gemeinde und erzählt ihre Geschichte des letzten Jahrhunderts. In der Dritten Heimat wird die unerträgliche Enge des Dorfes in jeder Filmsequenz spürbar. Aus der Enge brechen politische Utopien und orgiastische Gruppenerlebnisse hervor.
Um Ausschluss und Diskriminierung zu überwinden, entstanden deshalb in den 70er -Jahren politisch emanzipatorische Strömungen, die diesen Trend umkehren wollten. Statt Behinderung oder Fremdsein auszuschließen, war die Umkehrung nun, dass jeder im Grunde behindert oder auch jeder fremd sei, überall. Diese Umkehrung hat mich ganz persönlich wiederum zu einem anderen Pendelschlag veranlasst: Nämlich alle Bemühungen integrativen Arbeitens wiederum pauschal abzulehnen. Als Jugendlicher habe ich die pädagogisierenden Gleichstellungsbemühungen als extrem bevormundend empfunden. Die „Vorstadtkrokodile“ waren für mich gewollt, moralisierend, abstoßend. Autoren wie Gudrun Pausewang mit ihrem ewigen Nörgelton – das ist nicht gut, das ist unmoralisch, das darf man nicht – ein rotes Tuch. Die totale Negation des Heimatbegriffes hat bei mir seine Überhöhung ausgelöst. Diese erschienen mir deshalb als Linke, also die Bevormunder – die sich dagegen wehrten, mussten automatisch Rechte sein. Dass diese „Rechten“, wie mein Freund Christian Rogler bei DIB jetzt analysierte, noch viel größere Bevormunder sind, wurde mir erst viel später klar. Die Rechte – etwa die sich modern gebenden Identitären – wird noch heute genau von diesem Impuls genährt, der die Etablierung des Anderen als Gefahr für die eigene Identität erklärt. Es ist hier so, wie bei der Spiegel-Kritik der Inklusion: In der Theorie klingt das Bedrohungsszenario plausibel. In der Praxis hinkt es indes an allen Ecken und Enden. So ist etwa das Fremde nur dann eine Gefahr für die eigene Identität, wenn diese nicht mehr vorhanden ist. Aber das gesteht man sich nicht ein, wenn man den Denkmustern rechter Ideologie folgt. Und man kann auch Höchstleistungen erbringen, wenn man sich über Lebensphasen immer wieder mit jenen beschäftigt, die durch ein Handicap gehindert sind. Meine eigenen Erfahrungen als Lehrer an einer Waldorfschule hätten mich eigentlich eines Besseren belehren müssen. Während ich als Ideologe in theoretischen Aufsätzen Selektion und exklusive Pädagogik gepredigt hatte, war ich als Lehrer praktisch an einer Gesamtschule tätig und musste feststellen, dass das nicht nur geht, sondern auch viele Chancen birgt.
Inklusive Räume schaffen
Auch die Erfahrung inklusiver Pädagogik konnte ich mit geistig leicht behinderten Kindern selbst machen. Im Grunde verhielt es sich auch hier so, wie im Spiegel angedeutet: Es ist eine Überforderung und gleichzeitig gab es gute Aspekte. Für eine Wegstrecke konnte ein Kind auch mit sehr starken Defiziten in der Klasse getragen werden. Und doch gab es einen Punkt, an dem die Kräfte aller Beteiligten nicht ausreichten, um diesen Weg weiterzugehen. Nun kann man das Ende des Weges beklagen, oder man kann sich über die gemeinsame Wegstrecke freuen. Das ist immer die gleiche Frage nach dem Phänomen, ob ein Glas nun halb voll oder halb leer sei. Wahrscheinlich ist es, wie in fast allen Diskussionen, die Ideologisierung, die mehr zerstört als sie aufbaut. Eine Antwort auf die Exklusion und Diskriminierung musste gefunden werden. Die gesellschaftspolitische Fiktion, die von homogenen Verhältnissen ausgeht, und die das Andere an den Rand drängt, führt am Ende nur zu Unfrieden. Die Frage ist eben nur, mit welchem Maß man gesellschaftliche Veränderungen forciert, und inwieweit aus der einen verordneten staatlichen Ethik nun neue Ethiknormen geschaffen werden sollen. Und da ist Skepsis angebracht. Der „neue Mensch“ kann nicht per Verordnung oder Ideologie erzwungen werden. Dass man sich nämlich nun ins Quotendenken global geschaffener Richtlinien begibt, dürfte wiederum auch nicht funktionieren und nur wieder neue Probleme schaffen. So werden die Bemühungen, heute die Prozentzahlen der Behindertenquoten nach oben zu pushen am Ende wieder eine Gegenbewegung hervorrufen, die mit dem Beitrag im Nachrichtenmagazin schon angedeutet ist. Wandel braucht Zeit.
Vielfalt ist Normalität, aber Vielfalt bedarf gleichzeitig der Gemeinschaft wie der Separierung. Es wäre womöglich viel gewonnen, wenn man nach der staatlich erzwungenen Homogenität früher nun nicht ins andere Extrem fallen und eine staatlich verordnete Diversität mit aller Macht zu erzwingen versuchte. Vielmehr würden konkrete Erlebnisräume dafür sorgen können, dass man zunächst erst einmal Erfahrungen sammeln kann, was gemeinsam geht, und was nicht. Der Staat als Ordnungsfaktor sollte nicht gleich in Angst verfallen, wenn es Zonen mit eigenen Lebensgesetzen und Regeln gibt. Insofern erscheint der Begriff der Integration die vermittelnde Instanz zwischen Exklusion und Inklusion zu sein. Denn hier besteht eben nicht die Gefahr der neuen Homogenität, weil das Anderssein in einer Gruppe noch geduldet ist. Statt also einen neuen Druck aufzubauen, sollte man ganz konkrete Projekte des Miteinanders schaffen, um von dort aus zu sehen, wie viel Gemeinsamkeit realisieren kann. In Prozentzahlen wird man solche Erfolge jedoch kaum messen können.
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