„Ahh, weißt du Bruder Fatih, so ist das Leben halt. Voller Elend und Trauer. Ich habe keine Erwartungen mehr. All meine Träume und Wünsche hab` ich verloren“

Er soll wohl mein Cousin sein. Ich sehe ihn zwar das erste Mal in meinem Leben, aber wir haben uns in zwei Wochen recht gut anfreunden können. Ich sehe ihn mitleidig an. Sein Gesichtsausdruck verrät mir seine inneren Stürme. Ein Leben voller Leid. Er schaut auf die etwas kleineren Berge hinab. Auf die Täler, auf die arbeitenden Bauern, auf die Natur. Die Atmosphäre ist unbeschreiblich. Hier vergisst Ünal alles, meint er. Wir sind auf dem höchsten Berg in dem Dorf meiner Großeltern, im Osten Anatoliens, Erzurum.

„Pessimismus“ ist der erste Begriff, der mir einfällt. Genauer gesagt, ist das der Begriff, den mir meine schon zu europäische Denkensweise vorschlägt. Ich versuche die Psychologie meines Cousins zu lösen. Was treibt einen 20 jährigen jungen Mann in solch eine Schwarzseherei? Ist es unerlangbare Liebe? Geld? Familie? Schule?

Ich versuche ihn zu verstehen. Ich versetze mich in seine kleine Welt und analysiere seine Gefühle. Nichtsdestotrotz schäme ich mich. Neben Ünal fühle ich mich gefühllos. Ich fühle mich zu rational. Mein Herz und meine Seele sind geschwächt. Das Leben in Deutschland, in meiner Heimat, hat mich verändert. Meine Natur wurde verformt. Meine Gedanken auf der einen Seite, seine Gefühle auf der anderen.

In ihm sehe ich den durchschnittlichen anatolischen Dorfbewohner. In ihm sehe ich meinen Großvater. Und Hunderte von anderen türkischen Arbeitskräften, die nach Deutschland eingezogen sind. Mit einer deutschen Einladung begann eine neue Lebensphase, neue „Träume“ und „Wünsche“. Auch hier haben sich die anatolischen Arbeitskräfte nicht von ihrer kleinen Welt befreien können. Immerhin waren es Jahre, die sie in ihren kleinen Dörfern verbracht hatten.

Heute sehe ich türkische Studenten, Abiturienten, unter denen auch welche mit einem sehr guten Zeugnisdurchschnitt. Ich sehe Schulen, Bildungszentren, sogar Gymnasien, die von türkischen Aktivisten gegründet wurden. Und ich sehe Moscheen. Ich sehe Frauen mit Kopftüchern. Ich sehe türkische Dozenten, Wissenschaftler, Buchautoren, Musiker, Fußballer.

Aber da ist eines was mich stört: Ich kann den Gefühlen und den Perspektiven meines Cousins nicht folgen. Ich bin zu „deutsch“ für ihn. Ich bin integriert. Einen herzlichen Glückwunsch an die deutsche Politik!

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Studiert Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Derzeit engagiert er sich an verschiedenen Projekten und Institutionen. Dazu gehören politische Hochschularbeit oder auch ehrenamtliches Engagement in diversen Netzwerken und NROs. Er schreibt als freier Autor für verschiedene Publikationen.

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